von Jörn Schütrumpf
Als Bundeskanzler Konrad Adenauer mit der Nachricht von Bauarbeiten auf Ostberliner Seite in den Sonntagmorgenstunden des 13. August 1961 geweckt wurde, soll er erleichtert bemerkt haben: Gott sei Dank. Moskau, in die Zwickmühle geraten, hatte dem drohenden Zusammenbruch der DDR eine strategische Niederlage vorgezogen. Vor den Mikrofonen sagte Adenauer dann aber anderes. Dazu hatte er allen Grund, denn die Westalliierten wollten wegen der Mauer keinen neuen Weltkrieg riskieren. Als die Ostberliner an diesem Morgen durch die Westberliner Rundfunkanstalten RIAS und SFB über die Sperrmaßnahmen informiert wurden, fiel ihre Reaktion nicht so einhellig aus. Viele knirschten mit den Zähnen, andere hingegen sahen nach den Wochen der Massenflucht Chancen für einen wirklichen Sozialismus.
Vor allem Intellektuelle, aber auch viele Jugendliche glaubten, im Schatten der Mauer endlich etwas Eigenständiges tun und so langfristig die Mauer überflüssig machen zu können. Das hoffte in der SED-Führung auch die Gruppe um den Alt-Stalinisten Walter Ulbricht, der wußte, daß Stalins Weg in die Irre geführt hatte und die DDR ihren eigenen Weg zu einem Sozialismus finden mußte. Gegen den Widerstand seines einstigen Zöglings Erich Honecker brachte er unter der bis dahin undenkbaren Maxime »Der Jugend Vertrauen und Verantwortung« ab 1963 eine Liberalisierung ins Rollen, die vor allem die Wirtschaft, die Medien, die Literatur und die Filmkunst ergriff.
Beat-Bands schossen aus dem Boden, 1964 zu Pfingsten brachte in Ostberlin das »Deutschlandtreffen der Jugend« nicht nur eine vorher ungekannte Freizügigkeit, sondern mit einer täglichen Jugendsendung – DT 64 – eine Öffnung zur westlichen Jugendkultur, auf die RIAS und SFB bald mit eigenen Sendungen – Hey Music und SFBeat – antworteten. Es schien in den Jahren 1964 und 1965 so, als wäre in der DDR ein lebenswerter Sozialismus erreichbar.
Ulbricht handelte mit Rückendeckung des sowjetischen Staatschefs Chruschtschow, doch der wurde 1964 von einer neostalinistischen Fraktion gestürzt, die auch die DDR, den Mini-Staat an der verwundbaren Westgrenze ihres Imperiums, zurück in die Dumpfheit einer unverhüllten Apparatschik-Diktatur zurückzwingen wollte.. Honecker als der Sicherheitschef der SED, und sein Zuarbeiter, MfS-Chef Mielke, begannen, Material über Jugendliche zu sammeln, die mit der Doppelmoral gebrochen hatten, die der nachfaschistischen Bevölkerung und ihren stalinistischen Zuchtmeistern, darunter nicht wenige gewendete Hitlerjungs, gemeinsam war. Die sexuelle Freizügigkeit grassierte; kritische Filme entstanden; Schriftsteller machten sich »mausig«; im Hort des DDR-Stalinismus, in Leipzig unter dem Intellektuellenhasser Paul Fröhlich, versammelten sich am 30. September 1965 tausende Jugendliche gegen das Verbot der Beat-Gruppe The Butlers und wurden brutal zusammengeschlagen. Kurz zuvor war während eines Stones-Konzertes in Westberlin die Waldbühne zu Bruch gegangen. Die Herrschenden beiderseits der Mauer bliesen zum Sturm auf die Jugend.
In Ostberlin hatte das verheerende Wirkungen. Auf einem SED-Plenum im Dezember 1965 klagte Honecker Ulbrichts Politik an. Der konnte sich nur retten, indem er diese Politik verriet und ins gegnerische Lager wechselte.
Danach endete das vermeintliche Tauwetter abrupt: Nicht nur wurden die gesamte Produktion der DDR-Filmfirma DEFA des Jahres 1966 und viele Bücher verboten. Aufsässige und langhaarige Jugendliche verschwanden in Arbeitslagern, die Ende August 1961 eingerichtet, aber bis dahin kaum genutzt worden waren. Mit der abschreckenden Wirkung erschlug die SED-Führung ihre strategischen Potentiale. Viele Studenten und Intellektuelle zogen sich in ein Dasein zwischen innerer Emigration und äußerlicher Zustimmung, zwischen Freundeskreis und SED-Parteigruppe zurück. Der Traum von einem Sozialismus ohne Mauer war ausgeträumt.
Als sich im Frühjahr 1968 an der Warschauer Universität die Studenten zum Ausstand sammelten, trafen sich in Berlin lediglich noch die flügge gewordenen Kinder des SED-Adels in der chicen Mokka-Milch-Eisbar an der ehemaligen Stalinallee zum Räsonieren und landeten in MfS-Kellern. Nach dem Einmarsch in Prag im August 1968 fahndeten SED und Stasi nach versprengten Gegnern. Dort, wo sie keine fanden, erfanden sie oftmals welche. Das erhoffte »Tauwetter« erwies sich als Beginn einer neuen Eiszeit.
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