Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 17. März 2008, Heft 6

Fluchtpunkt Tempelhof

von Thomas Heubner

Besuch war am Wochenende eingetroffen bei den Meiers am Boxhagener Platz. Ein alter Schulfreund von Mandys Mann, den es vor Jahren nach Leipzig verschlagen hatte. Der Gast sollte natürlich etwas erleben. Also schleppten Mandy und Dieter ihn mit über die Südgrenze des zwangsvereinten Stadtbezirks, nach Tempelhof.. Dort am Flughafen gab es nämlich ein megastarkes Event, ein Volksfest mit Hotdogs, Swing und Stars zum Anfassen.

Bereits in der kultigen Eingangshalle, durch die schon der Führer und Max Schmeling geschritten waren, stolperten ihnen Promifriseur Bodo Schmalz und der singende Trucker über den Weg. Ein Gedränge, als würden Freikarten für ein Florian-Silbereisen-Konzert verschenkt. Hinter einem Infostand hatte sich ein stadtbekannter Teppichhändler verbarrikadiert. Der wollte früher mal Regierender Bürgermeister werden und war der einzige in der Stadt, der seit der Fußball-WM 2006 immer noch mit einem schwarz-rot-goldenen Fähnchen an seinem Auto herumfuhr – neben dem Bundespräsidenten und dessen Standarte an der Staatskarosse. Freudig erregt winkte er die drei einsamen Voyeure heran und bettelte lautstark: »Unterschreiben Sie für das Volksbegehren zum Erhalt des Flughafens Tempelhof! Wir sind das Volk!«

Der Besucher aus der Heldenstadt Leipzig beteiligte sich an der basisdemokratischen Plauderei und verschränkte die Arme vor der Brust: »Sie sind das Volk? Ich bin Volker!« Psychedelisch beschwingt erklärte er sofort, warum er für die Schließung des Flughafens sei und was statt dessen hier errichtet werden sollte: ein alternativer Streichelzoo! Die Zeit dafür sei reif, denn nach Artikel 15 des Grundgesetzes würden bald die Konzerne und auch der einstige Flughafen in Gemeindeeigentum überführt. In dem weiträumigen Tempelhofer Freilaufgehege könnten dann die letzten überlebenden Exemplare einer längst vergangenen Epoche artgerecht gehalten werden, mit kleinen Schildchen am Käfig: Wendelin Wiedeking, Porsche, rund 35 Mio. Euro Jahressalär; Dieter Zetsche, Daimler, 8,55 Mio, Klaus Esser, Mannesmann, 14,5 Mio.; Josef Ackermann, Deutsche Bank, 13,2 Mio.; Peter Hartz, 2,7 Mio. Anlagevermögen; Klaus Landowsky, 175000 Euro jährliche lebenslange Pension; Klaus Zumwinkel, Deutsche Post, eine Mio. Steuerschulden; Jürgen Schrempp, Bernd Pischetsrieder, Birgit Breuel … Füttern verboten! Volker redete mit bizarrer Leidenschaft wie einst im Revolutionsherbst ‘89. Viel fehlte nicht, dann hätte er eine Kerze aufgestellt und mutig angezündet.

Allein Mandy schüttelte energisch den Kopf. »Der Flughafen Tempelhof muß erhalten bleiben!«, sprach sie beherzt, und des Teppichhändlers Wangen glühten frostrot wie bei den Wehrmachtssoldaten vor Stalingrad. »Wie wichtig ein Flugplatz im Stadtinneren ist, beweist doch die Zeitgeschichte«, fuhr Mandy fort. »Seit Batista in Havanna oder Somoza in Managua wissen wir ja, wie günstig es für abgedankte Regierungen ist, einen Fluchtpunkt ganz in der Nähe des Amtssitzes zu haben. Diesen Weg ins Exil sollten wir auch in Berlin nicht verbauen!«

Dieter war vom Vorschlag seiner Frau sofort begeistert. Nur mit Engelszungen konnte Mandy ihn davon überzeugen, nicht sofort aufs Rollfeld zu rennen. Sonst hätte er schon mal die Douglas C-54 Skymaster, den alten Rosinenbomber, auf die Startbahn geschoben und den Motor warmlaufen lassen.