von Gerhard Wagner
Einseitigkeit der Ideen, Erregbarkeit, Beeinflußbarkeit, Überschwenglichkeit der Gefühle, überwiegender Einfluß der Führer« – das waren für den französischen Arzt, Völkerpsychologen und Soziologen Gustave Le Bon (1841 bis 1931) die wesentlichen Kennzeichen der »Masse«. Mit seinem 1895 publizierten Buch Psychologie der Massen schuf er die erste sozialpsychologische Gesamtdarstellung der im 19. Jahrhundert entstehenden neuen Erscheinungsformen von Klassen, Schichten und Individuen. Sie hinterließ, wie auch die späteren Arbeiten zur Psychologie der Politik, des Sozialismus und der Revolutionen, deutliche Spuren unter anderem in Ortega y Gassets Untersuchung Der Aufstand der Massen (1929) und in Elias Canettis historisch-anthropologischem Werk Masse und Macht (1960), aber auch in »postmodernen« sozialpsychologischen Studien.
Gustave Le Bons bekannteste Schrift, deren deutsche Erstausgabe in der Übersetzung des Wiener Philosophen Rudolf Eisler vor einhundert Jahren im Stuttgarter Alfred Kröner Verlag erschien (15. Auflage 1982), ist vielschichtig und widersprüchlich. Es vermischen sich in ihr philosophisch-idealistische und geschichtspessimistische, auch »rassenseelische« Konstruktionen, die weitgehend von konkreten sozialen und politischen Bedingungen abstrahieren, mit plastischen Exkursen in die Geschichte der Antike und des Frankreichs der Revolutionszeit um 1789, auch mit arbeiter- und gewerkschaftsfeindlichen Parolen. Entstanden in einer, wie Le Bon schrieb, »Periode des Übergangs und der Anarchie«, ist sie aber noch heute in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich.
Zum Beispiel für die Komplexität des Massen- und Individualverhaltens im kapitalistischen Industriezeitalter. Denn bei deren Untersuchung berücksichtigte Le Bon – schon vor Sigmund Freuds Werk Massenpsychologie und Ich-Analyse von 1921 – die »tiefen Bereiche des Unbewußten« und das Phänomen der »Kollektivhalluzinationen«, unterstrich die Einseitigkeiten des auf ein idealtypisches Individuum und seine »reine Vernunft« fixierten aufklärerischen Rationalismus. Ferner bieten seine Schilderungen des theatralischen »Nimbus« politischer Protagonisten in Parlament und Presse, der von ihnen durch ständige Behauptung und Wiederholung vorgenommenen »Verdichtung« von Tatsachen, der Oberflächlichkeit und Verlogenheit des Pluralismus der »fertigen Meinungen« interessante Einblicke in zeitgenössische Propagandastrategien. Deren schädliche Wirkungen sah Le Bon unter anderem in der »völligen Zerbröckelung aller Anschauungen«, der »wachsenden Gleichgültigkeit«, der sturen »geistigen Angleichung«, nicht zuletzt in der allgegenwärtigen »sozialen Täuschung«. Deshalb hoffte er auf die politische Etablierung einer bürgerlichen Geistesaristokratie, welche die seiner Auffassung nach unabänderlich deformierte, naiv auf die »Staatsvorsehung« vertrauende Masse »in Abstand« hält. Und schließlich ist die Psychologie der Massen auch ein Stück Geschichte der Wirkung des »Sozialismus« (der Arbeiterbewegung) auf Intellektuelle, weil sie insgesamt sowohl von Arroganz gegenüber dem »riesigen Heer Unzufriedener« als auch von Angst vor dem »drohenden Hereinbrechen des Sozialismus« geprägt ist.
Der Erkenntniswert der Schriften Le Bons kann allerdings nicht hinreichend mit einem Interpretationsschema erschlossen werden, welches die proletarischen Massen idealisiert, ihnen vorbehaltlos und pauschal eine latente politische Progressivität zuschreibt. (Das zeigt zum Beispiel der Artikel über Le Bon im 1982 in der DDR erschienenen Philosophenlexikon.) Schon der marxistische Psychologe und Le-Bon-Leser Wilhelm Reich betonte 1935 in seinem Aufsatz Masse und Staat, daß die Sehnsucht der »oft autoritätssüchtigen« Masse nach Freiheit nicht verwechselt werden dürfe »mit der Fähigkeit, frei zu sein«. Eine auch im Licht der Epochenerfahrung seit 1989 bedenkenswerte Schlußfolgerung.
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