Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 4. Februar 2008, Heft 3

Das Kind im Brunnen

von Horst Jakob

Ein Kind ist in den Brunnen gefallen. Fünf, die das bemerken, bauen sich am Rand der Zisterne auf und schauen gebannt in die Tiefe. Daß das Kind gerade am Ertrinken ist, so ihre übereinstimmende Auffassung, hat Ursachen, über die jetzt und ein für alle mal – und zwar Tacheles (!) – geredet und entschieden werden müsse. Das verlange nach einer Analyse der ursächlichen Umstände für das Desaster, dem Abwägen von Alternativen und nach einer gesetzes- und verfassungskonformen Beschlußfassung.

Da die Berechtigung dieser Überlegungen absolut plausibel und daher unstrittig, ist die Leidenschaft, mit der die Analyse nun vorgenommen wird, beträchtlich. Schließlich geht es um ein Menschenleben; um viele mehr sogar noch, würde sich nichts an den Rahmenbedingungen ändern! Wer also – wird scharf die Frage gestellt – trägt die Schuld daran, daß der Brunnen nicht so eingezäunt war, wie es zur Verhinderung dieses Dramas hätte sein müssen? Wer ist zur Verantwortung zu ziehen: lokal, kommunal, gesamtstaatlich, global? Wie hätten Elternhaus, Schule, und vor allem die Kinder selbst, aufgeklärt werden müssen über die Gefahren, die im Leben auf sie lauern? Wie wäre eine auf nachhaltige Sicherheit bedachte Lösung vorzubereiten, beschlußfähig zu machen und durch eine konsequente Umsetzung zu realisieren gewesen, auf daß Unglücke wie dieses sich nie mehr wiederholen könnten?

Die Debatte über all das am Brunnenrand ist leidenschaftlich, und man gerät in Anbetracht der dramatischen Lage mehr und mehr zu einem parteiübergreifenden Konsens. Zum Glück sind Feder und Papier zur Hand; der nach weniger als zwei Stunden gefaßte Gemeinwille wird festgehalten, redigiert und in seiner endgültigen Form von allen Unfallzeugen ratifiziert.

»Und wenn wir das Kind erstmal retten?«, fragt plötzlich ein Hinzugetretener. Die derweil zur Arbeitsgemeinschaft »Gegen ungeschützte Brunnen« konstituierten Fünf lassen ihn tolerant gewähren. Erst nachdem das Kind glücklich geborgen und in letzter Minute sogar hat wiederbelebt werden können, sagen sie ihm auf den Kopf zu, wie verächtlich sie seinen konzeptionslosen Aktionismus finden.

P.S. Diese Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit der derzeitigen Debatte über Kinder- und Jugendgewalt sind rein zufällig