von Mario Keßler
Das zwanzigste Jahrhundert war sein Jahrhundert, und zwar zur Gänze: Geboren am 17. Juni 1906 in Kraków, lebte und arbeitete der polnisch-amerikanische Soziologe und Politologe Feliks Gross auf zwei Kontinenten, schrieb mehr als zwanzig Bücher in englischer und polnischer Sprache, benutzte aber gelegentlich auch Deutsch und Italienisch zur schriftlichen Fixierung seiner Gedanken. Der Sohn eines liberalen Abgeordneten des österreichischen Reichsrates studierte an der Jagiellonen-Universität seiner Heimatstadt Jura und schloß mit der Promotion ab. Der später bedeutende Kunsthistoriker Karol Estrajcher wurde sein engster persönlicher Freund. Als Student trat Gross der Sozialistischen Partei Polens, der PPS, bei. Damals schrieb er seine ersten Flugblätter und Artikel für die sozialistische Presse – einige zusammen mit seinem Genossen Isaac Deutscher, dem künftigen Biographen Stalins und Trotzkis.
Nach der Promotion ging Gross, ausgerüstet mit einem Stipendium, nach England, wo er als Mitarbeiter des Anthropologen Bronisl⁄aw Malinowski an der London School of Economics forschte. Bis zu Malinowskis Tod – dieser starb 1942 – blieb die enge Verbindung zwischen Lehrer und Schüler bestehen. Zurück in Polen, gründete und leitete Gross zwischen 1934 und 1939 ein Stiftungsinstitut zur Erforschung der sozialen Lage am Arbeitsplatz. Eine Universitätsanstellung fand sich für den Juden und Sozialisten nicht.
Der deutsche Überfall auf Polen vertrieb Gross, seine Frau Piva und die Tochter Eva aus ihrem Heimatland – für immer, wie sich zeigte. Zunächst fand Gross in der Sowjetunion Asyl, doch als nichtkommunistischer Linker war er auch in Stalins Reich nicht wohlgelitten. Unter abenteuerlichen Umständen, die er in dem von Hannah Arendt hoch gelobten Buch Crossroads of Two Continents beschrieb, gelang ihm 1941 die Weiterreise in die USA.
Dort arbeitete er zunächst am Polnischen Institut für Wissenschaften und Künste (PIASA) in New York, das er dann bis 1988 leitete. Politisch schloß er sich eng den deutschen Exilanten Franz Neumann und Arthur Rosenberg an. Gross war einer der ersten Kritiker von Neumanns Buch Behemoth, der brillanten Strukturanalyse des deutschen Faschismus. Nicht zuletzt mit Neumanns Unterstützung konnte er 1946 eine Lehrtätigkeit in der Soziologie-Abteilung des Brooklyn College aufnehmen, jener Lehranstalt, an der zeitweise auch Hannah Arendt, Arthur Rosenberg, Hans Rosenberg, Felix Gilbert, Hans Morgenthau und noch weitere Flüchtlinge aus Europa gelehrt hatten oder noch lehrten. Nun entstanden die Hauptwerke The Polish Worker: a Study in Social Stratum; Ideologies, Goals and Values; Ethnics in a Borderland; European Ideologies und The Revolutionary Party.
Am Brooklyn College stieg Gross vom Lecturer zum Professor auf. Er lehrte auch am Graduate Center der City University of New York, war Gastprofessor an der New York University, der Sorbonne, in Florenz und in Rom. Auch für verschiedene Organisationen der Vereinten Nationen war er aktiv, vor allem nach seiner Emeritierung 1977. Seine Memoiren, die er in Polen zu publizieren gedachte, blieben leider unvollendet. Dem Verfasser dieser Zeilen wurde Feliks Gross zum wichtigen Gesprächspartner bei Recherchen über deutsche Exilanten, vor allem über Arthur Rosenberg.
1999, Gross war bereits 93 Jahre alt, zog er in The Civic and the Tribal State eine wissenschaftliche Bilanz. Wie können Völker unterschiedlicher Kultur in Frieden miteinander leben, fragte er. Gross entfaltete ein rational-normatives Modell ethischer und moralischer Standards des Zusammenlebens verschiedener Nationen, das von der Diskurstheorie von Habermas beeinflußt war, doch auch auf diese zurückwirkte. Dabei komme auch den Werten der europäischen sozialistischen Arbeiterbewegung eine wichtige Bedeutung zu. Diese Werte seien durch den Umbruch von 1989 keineswegs widerlegt.
Wie Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur in einer Gesellschaft friedlich miteinander existieren können – diese Frage stand im Zentrum des Buches. Gross untersuchte, auf welche Weise unterschiedliche Gruppen von Menschen in Geschichte und Gegenwart ohne administrativen Zwang zusammenleben können und fragte nach den dafür notwendigen gemeinsamen Standards. Der operative Terminus einer »Citizenship« war für Gross nicht schlechthin an der juristischen Kategorie der Staatsbürgerschaft zu messen. Die Citizenship drücke als »gemeinsamer Nenner« der Bewohner eines Staatswesens, das seine Bürger aktiv ausgestalten, die »Hierarchie akzeptierter Standards jenseits und oberhalb ethnischer oder ›rassischer‹ Werte« aus. Sie spiegele Klassen-, Macht- und Besitzverhältnisse, doch auch kulturelle Überlieferungen und historische Konstrukte wider – hier zeigt sich die polnische Prägung des Autors ebenso wie seine Erfahrung, die er in verschiedenen Ländern gewinnen konnte.
Feliks Gross war ein freundlicher Lehrer, ein Mensch mit einem Hang zur Selbstironie. Voller Stolz berichtete er, daß sein Neffe Jan Tomas Gross es zu einem namhaften Professor in Princeton gebracht hatte. Es ist jener Gross, der in Polen mit seiner Arbeit Der Mord an den Juden von Jedwabne eine heftige Debatte aufgelöst hatte. So lange seine Kräfte ausreichten, war Feliks Gross ein unermüdlicher Korrespondenz- und Gesprächspartner. Am 9. November 2006 verstarb er kurz nach seinem einhundertsten Geburtstag in seiner New Yorker Wohnung. Doch zumal seinem letzten Buch ist eine deutsche Übersetzung sehr zu wünschen.
Feliks Gross: Citizenship and Ethnicity. The Growth and Development of a Democratic Multiethnic Institution, Greenwood Press Westport 1999
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