Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 21. Januar 2008, Heft 2

Der lange Weg der Alye A.

von André Hagel

Es gibt Texte, von deren Lektüre für den, der sie liest, viel abhängt. Verträge zum Beispiel. Testamente. Klageschriften. Vor Alye A. liegt ein Text. Für sie hängt vom Lesen und Verstehen dieses Textes ab, ob sie Deutsche werden darf. Für Alye A. ist dies nicht lediglich viel. In ihren Augen ist es so gut wie alles.
»Frau A., verstehen Sie mich soweit?« fragt die junge Richterin zur Eröffnung, nachdem die Teilnehmer und Zuschauer der öffentlichen Verhandlung wieder Platz genommen haben. Alye A. nickt: »Ja.« Die in Ibbenbüren, einer 52000 Einwohner zählenden Kleinstadt in Westfalen lebende Kurdin, 1969 in jenem Teil Kurdistans zur Welt gekommen, der zum türkischen Staatsgebiet zählt, und somit türkische Staatsangehörige, sitzt an diesem Mittag um viertel nach zwölf an einem Tisch im Saal II des Verwaltungsgerichtes Münster, weil sie gegen den Landrat des Kreises Steinfurt eine Klage auf Einbürgerung angestrengt hat. Im Januar 2005 hat Alye A. zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern einen Einbürgerungsantrag gestellt. »Der Kreis Steinfurt lehnte den Antrag mit der Begründung ab, sie verfüge nicht über ausreichende Kenntnisse der deutschen Schriftsprache. Während alle übrigen Voraussetzungen erfüllt sind, bedarf nun der Klärung, ob die Klägerin ausreichend Deutsch lesen und schreiben kann«, heißt es in einer Pressemitteilung des Gerichtes.
Daß es für sie schwer werden wird an diesem Tag, ist Alye A. klar. Sie ist Analphabetin. Deutsch, das sie gebrochen spricht, hat sie von ihren sieben Kindern gelernt. Seit zwanzig Jahren lebt Alye A. in Deutschland. 1986 hatte sie mit ihrem Mann aus politischen Gründen die Türkei verlassen. Weil der türkische Staat die ethnische und kulturelle Eigenart der Kurden negiert. Weil er den Kurden mal mehr, mal weniger die Luft zum freien Atmen nimmt. Bis heute hat A. den rechtlichen Status einer anerkannten Asylbewerberin mit dauerhafter Aufenthaltserlaubnis. »Ich habe die türkische Staatsangehörigkeit, aber keine Kontakte mehr in die Türkei. Meine sechs Geschwister leben hier. Meine Mutter und mein Vater liegen hier begraben. Wir haben gebaut«, erzählt Alye A, lächelt. »Mit der Türkei«, formuliert es ihr Rechtsanwalt, »hat sie längst abgeschlossen.«
Im November 2005 lud der Kreis Steinfurt Alye A. zum Sprachtest ein. Einer Einbürgerung stand denkbar wenig im Wege. Nur das Lesen und Schreiben erwies sich schließlich als zu hohe Hürde für den Abschluß des Procederes, an dessen Ende für A. die deutsche Staatsangehörigkeit stehen sollte. »Noch während des Lese- und Schreibtests hat man mir gesagt, daß es nicht ausreicht.« Die junge Frau kennt die Wege des Rechts inzwischen allzu gut, weiß, daß es vor allem lange Wege sind. Der Text, den der Vertreter des Kreises Steinfurt zum Verhandlungstermin mitgebracht hat, liegt um 12.21 Uhr vor Alye A. auf dem Tisch. »Wir haben keinen Zeitdruck«, beruhigt sie die Richterin.
Alye A. liest unter den Augen aller einen Text, der, wie sich später herausstellt, davon handelt, daß vor 2000 Jahren die Römer damit begonnen haben, befestigte Straßen aus Stein zu bauen. Der Text wird von dem Vertreter des Kreises streng gehütet. »Wir haben nicht sehr viele Mustertexte für unsere Tests«, sagt er nach dem Ende der Verhandlung, vor dem Gerichtsgebäude. Nein, einsehen könne man diesen Text jetzt und hier nicht. Überhaupt nicht. Denn natürlich habe der Kreis Steinfurt kein Interesse daran, daß der Inhalt öffentlich die Runde mache. Weil sich dann Antragsteller auf Einbürgerungstests vorbereiten könnten. »Nehmen Sie sich ein gängiges Grundschulbuch der vierten Klasse, dort werden Sie die Textvorlage sicherlich finden.«
Die Richterin schaut zu Alye A., während diese sich mit sichtlicher Mühe durch den Text arbeitet. Der Vertreter des Kreises blickt vor sich ins Nichts. Die Gerichtsprotokollantin schaut zu A., dann vor sich auf den Tisch, schließlich auf den Bildschirm ihres Computers. Im Saal herrscht absolute Stille, bis um 12.26 Uhr feststeht, daß A. an diesem Text gescheitert ist. Die Frage, wer als erster Straßen aus Stein baute, kann sie nicht beantworten, auch den Inhalt des Papiers nicht wiedergeben. Der Vertreter des Kreises legt einen zweiten Text vor, ebenfalls aus einem Grundschulbuch. Am Ende steht wieder das Scheitern A.s, der Analphabetin, die sich aufgemacht hat, Lesen und Schreiben zu lernen, um Deutsche werden zu können. »Sie ringt darum, jedes einzelne Wort zu lesen«, sagt ihr Anwalt zur Richterin.
Zäh verrinnt die Zeit. Minuten dehnen sich. Immer wieder versucht Alye A., das wenige, das sie aus den Texten herauslesen konnte, in Worte zu fassen. »Ich kenne andere Frauen, die auch nicht lesen und schreiben können und trotzdem eingebürgert wurden«, macht sie einen letzten Versuch, das Blatt für sich zu wenden. »Wahrscheinlich handelt es sich dabei um Fälle von vor dem Jahr 2000«, sagt der Vertreter des Kreises Steinfurt, und in der Art, wie er es sagt, schwingt tatsächlich so etwas wie Verständnis für A.s Situation mit. Für einen ganz kurzen Moment wird die bürokratische Fassade ein wenig durchlässig. »Bis dahin war eine Sprachprüfung nicht nötig, weil man davon ausging, daß jemand, der seit 15 Jahren hier lebt, ohnehin Deutsch kann«, führt er aus.
Alye A. und ihr Rechtsanwalt lenken schließlich ein. »Es soll heute auch keine Quälerei werden«, sagt die junge Richterin verständnisvoll. »Sie werden solche Texte bald lesen können – aber heute kommen Sie hier nicht weiter. Es kommt da was, Sie müssen nur besser werden«, ermuntert sie die Kurdin, die ihren türkischen Ausweis gerne gegen einen deutschen eintauschen möchte. »Bleiben Sie dran, lernen Sie weiter, das klappt! In ein paar Monaten sieht alles schon anders aus – und dann stellen Sie einen neuen Antrag«, gibt sie Alye A. mit auf den Weg, bevor sie der Protokollantin das Ergebnis der Verhandlung diktiert: »Der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin erklärt: Ich ziehe die Klage zurück. Das Verfahren wird eingestellt. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens. Der Streitwert des Verfahrens wird auf 10000 Euro festgesetzt.«