von Erhard Weinholz
Berlin-Besucher nutzen gern den 100er oder 200er Bus für Stadtrundfahrten: links das Rote Rathaus, rechts unten das DDR-Museum, links noch immer der Palast. Ist man in der Stadt zu Hause, gerät schon die alltägliche Einkaufsfahrt mit dem 240er zur Tour in die Geschichte. Abfahrt laut Plan 19.40 Uhr ab U-Bahnhof Strausberger Platz. Ein Abend unter dicht bewölktem Himmel. Der Bus kommt pünktlich; mein Lieblingsplatz, gleich links, wenn man einsteigt, ist frei. Nach wenigen Minuten ist der Ostbahnhof erreicht. Es wird sehr voll. Doch meine Sicht bleibt unversperrt. Wir unterqueren die Bahngleise. Rechts dahinter eine Mauerinschrift: Bahnpostamt. Im Advent konnte man hier zu DDR-Zeiten als Sortierer das Stipendium aufbessern. Und zusehen, wie die als Zöllner getarnten Stasi-Mitarbeiter per Röntgenstrahl die Westpakete prüften. Jetzt ist die Bahnanlage bis auf ein paar kleine Bauten an der Straße verschwunden. In einem stinkenden Gelaß kampiert seit einiger Zeit ein Obdachloser, ein Hund bewacht Schlaf und Habe. Auf der anderen Straßenseite liegt jemand reglos im Gebüsch.
Wir kreuzen die Warschauer, durchfahren die Boxhagener, das ist die Hauptstraße des Neuen Friedrichshains. Rechts die Simon-Dach-Straße, die Bürgersteige mit Kaffeehausmobiliar vollgestellt. Nr. 17 im Seitenflügel hat mein Freund Hermann gewohnt, Dichter und Bibliothekar. 1983, am 1. September, dem Weltfriedenstag, haben wir seinen dreiunddreißigsten Geburtstag gefeiert. Damals war das eine stille Gegend. Sieben oder acht Gäste saßen um den Tisch, die meisten einander unbekannt. Aber das Gespräch ging mühelos hin und her. Hermann, der seit Jahren mit dem Leben hierzulande schwer zu kämpfen hatte, wirkte gelöst wie schon lange nicht mehr. Zuletzt kam eine junge Frau. Mitglieder von Friedensgruppen hatten am Nachmittag versucht, die US-amerikanische und die nahegelegene sowjetische Botschaft mit einer Menschenkette zu verbinden. Sie war dabei gewesen. Kurz vor acht gingen wir in ihre Wohnung, gleich gegenüber, um zu sehen, was die Tagesschau darüber brachte. Die Frau gefiel mir, sie hatte so eine sanfte Art, mit allem umzugehen. Am nächsten Morgen schrieb ich ihr einen verliebten Brief. Ich wollte ihn bei ihr in den Türspalt klemmen, erfuhr dann aber von Hermann, daß sie einen Ausreiseantrag gestellt hatte, und nahm den Brief wieder mit.
Allmählich leert sich der Bus. In den Wartehäuschen sitzt mancher, der auf nichts mehr zu warten scheint. Marktstraße, kurz hinterm Ostkreuz, steige auch ich aus, kaufe rasch im dortigen Center ein: drei Kartons Rotwein, Stipp- und Suppenzwieback, Tomatenmark, ein Kilo Makkaroni. Unten im Basement, wo die Waren lagern, herrscht angenehme Temperatur; oben, wo die Kassiererinnen arbeiten, Bullenhitze. Raus und mit dem nächsten 240er weiter.
Inzwischen sind wir in Lichtenberg, passieren den roten Klinkerbau der Rummelsburger Erlöserkirche. In den Achtzigern fanden auf dem Gelände die Berliner Friedenswerkstätten statt, sozusagen die oppositionellen »Messen der Meister von morgen«. Einmal habe ich dort einen Aufruf gegen den Bau des Atomkraftwerks Stendal unterschrieben. Die Unterschriftenliste fand ich dann in meiner Akte: Seite für Seite alle Namen, außer meinem, von den Mitarbeitern der Gauck-Behörde geschwärzt. Über die Weitlingstraße kommen wir auf die Frankfurter Allee, fahren stadteinwärts. Die Wolken haben sich verzogen. Von der Lichtenberger Brücke Panoramablick auf die City Ost vor untergehender Sonne. Der große Siebziger-Jahre-Bau vor uns rechter Hand, den jetzt die Deutsche Bahn nutzt, gehörte einmal zum Stasi-Hauptquartier. Später breitete sich das Ministerium weiter in die angrenzenden Straßen aus: Die Namensschilder auf den Klingelbrettern verschwanden, die Fenster im Erdgeschoß wurden vergittert. 1996 zog die Redaktion der Zeitschrift Horch und Guck in den einstigen Ministerbau. Letztes Jahr im Herbst haben wir dort eine Auswahl aus Hermanns Gedichten gebracht, dazu ein paar Briefe: Marx und Biermann, große Phrasen, alles in den Wind gekotzt …
Im Sommer 1984 hatte Hermann sich das Leben genommen.
Während der Arbeit am nächsten Heft, Thema: Rituale in der Diktatur, bekamen wir Post vom Hauptgeldgeber, der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur: Zum Jahresende werde die Förderung eingestellt. Jüngste Begründung: fehlendes Vertrauensverhältnis. »Vorwärts, Freie Deutsche Jugend, der Partei unser Vertrau’n …« Vor einiger Zeit hat der Vorstand des Trägervereins eine neue Redaktion berufen.
Eine Busstation weiter, Bahnhof Magdalenenstraße, wechsele ich in die U-Bahn. Ich will noch zum Ring-Center, es gibt da irische Butter zu 79 Cent, ein günstiges Angebot. Butter kann man ja einfrieren.
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