von Stefan Bollinger
Willkommen, liebe Trauergemeinde, so könnten sich spätestens im nächsten Jahr die Hinterbliebenen der 68er Bewegung untereinander wie auch ihre einstigen und neuen Sympathisanten begrüßen, wenn es um das Thema Emanzipationsbewegungen und die Folgen geht. Jüngst konnte man in einer großen Berliner Zeitung als Empfehlung an die Ostdeutschen nach dem Scheitern der DDR und ihrer Ideale lesen: »Utopien haben eine ungeheure stabilisierende psychologische Funktion. Wegbrechende Utopien sind also Trauerfälle … Wenn ein Volk gesund sein will, muß es trauern dürfen. Aufforderungen wie Nach-vorn-schauen! helfen nicht.« Das könne dazu führen, daß eine Gesellschaft und ihre Intellektuellen aus der Geschichte ausstiegen. Soweit Therapeut-Ost.
Sein West-Pendant empfiehlt Deftigeres – er richtet sich unverblümt gegen jede Gesellschaftsutopie, weil sie totalitär-terroristisch wirke. In der Kommune, der unterdessen dem Realo-Flügel der Grünen nahestehenden Zeitschrift, beklagt Martin Altmeyer, daß »der 68er Bewegung die intellektuelle und moralische Kraft (fehlte): die von der Geschichte gründlich diskreditierte Idee vom Kommunismus als einem uneingelösten Gerechtigkeitsversprechen aufzugeben«.
Ob trauern hilft, ist zu bezweifeln. Nachdenken, kritisieren und sich selbst kritisieren, gar Folgerungen zu ziehen, scheint für jene sinnvoller zu sein, denen es ernst ist mit einem Wandel nicht allein ihrer Seelen, sondern konkreter Gesellschaften. Nach vorn zu blicken und sowohl aus der Analyse des untergegangenen Realsozialismus als auch aus der der alten und neuen sozialen Bewegungen Hoffnungen und Kenntnisse zu schöpfen und sie für künftige geistige, soziale gar politische Kämpfe anzuwenden, liegt vielleicht nicht nur Linken näher.
Das Jahr ‘68 ist von Deutungen und Deutern okkupiert. Claus Leggewie spricht von einem »von etwa 1963/64 bis 1972/73 verlaufenden Protestzyklus«, der »auf ein einziges annus mirabilis – ›eine Verkürzung, die mit der außerordentlichen Verdichtung dramatischer Ereignisse zusammenhängt: Tet-Offensive des Vietcong, militante Straßenkämpfe von Berlin über Paris und Mexiko bis Chicago, ›Prager Frühling‹, chinesische Kulturrevolution« – zusammengedrängt werde.
Ein Wunderjahr, zu dem Akteure und viele Beobachter Präferenzen haben: Die politische Kultur der westlichen Demokratien sei revolutioniert, die Abrechnung mit Faschismus und Autoritarismus vollzogen worden, meinen die einen. Dieser Triumph einer neuen politischen Kultur und Lebensweise, einer neuen Sexualität habe die Gesellschaft und ihre Ordnungen zerstört, kritisieren andere.
Damit konnte selbst eine mittlerweile geschaßte TV-Moderatorin Schlagzeilen machen. Schon allein der Verweis auf die Zerstörung der Traditionsfamilie ließ sie punkten, und nur ihr unbedarftes Rückbesinnen auf die NS-Familienpolitik und nicht auf die »unverfänglichen« drei K von Kirche – Kinder – Küche als dem historischen Beruf der Frauen bezäumte noch einmal breitere Zustimmung.
Für die Länder des marxistisch-leninistischen Sozialismus wird lediglich anerkannt, daß manche der neuen Protestformen übernommen, aber durch Moskaus Panzer die große Abrechung mit dem Stalinismus verhindert wurde. Auch hier wird ein Bewußtseinsbruch ausgemacht, der an manchen Stellen aber erst Jahrzehnte später gewirkt und sich dann generell gegen sozialistische Utopie und Wirklichkeit gerichtet habe. Reformgeist wird allein einer Opposition unterstellt, neben der innerkommunistische Reformversuche von oben wie das Neue Ökonomische System in der DDR oder die KPC-Programmatik des Prager Frühlings kaum Platz haben.
An einem läßt der konservative Zeitgeist kaum zweifeln: Das »Phänomen 1968« sei erledigt, die Akteure seien erwachsen und geläutert. Der Osten – in welchen Formen er einst auch begeisterte – ist als Staatssozialismus gescheitert; die West-Linke – auch die Neue – durch Deutschen Herbst, die RAF, die italienischen Roten Brigaden und vergleichbare Terroristen desavouiert. Die Terror-Geschichte des Realsozialismus und der Krieg gegen den Terror seit 11. September 2001 konturieren dies klar in Schwarz und Weiß. Bestenfalls taugt das Jahr ‘68 zur Erinnerung. Aber eigentlich kann es nur abschrecken und warnen – davor, wohin auch im Westen Utopien führen: in Gewalt und Terror. Aus dem Osten kannte man es seit 1917 ja sowieso nicht anders.
Will kritische Geschichtsauseinandersetzung bei solchen Wertungen und Abwertungen nicht stehenbleiben, muß sie gegenhalten. Also gilt es, die Erinnerung an dieses Jahr und seine Nah- wie Fernwirkungen zu historisieren. Sie muß Verklärungen und Dämonisierungen offenlegen. Kann dieses Jahr für emanzipatorische Ansätze neu begutachtet werden? Muß genauer nach Ursachen und Wirkungen gesucht werden? Könnte sich herausstellen, daß die kulturellen Brüche, die Jugendrevolten, die Entkrampfung der westlichen Gesellschaften und die Entsozialisierung der Linken nur die Oberfläche tiefergehender Prozesse darstellten, die ganz andere, zunächst neoliberale Antworten fanden und ihre emanzipatorische, sozialistische Antwort bislang noch nicht gefunden haben?
Das Jahr 2008 wird – wie schon dieses Jahr – ein Jahr der Geschichtspolitik. Für den rechten Zeitgeist und die im Marsch durch die Institutionen gezähmten 68er, die einstigen Frankfurter Straßenkämpfer und späteren Serbenbekrieger, die einstigen RAF-Anwälte und späteren Otto-Paket-Schnürer muß die einstige radikale Kapitalismuskritik und -bekämpfung bestenfalls Jugendsünde bleiben.
Für die Konservativen damals wie heute ist jedes Aufbegehren gegen die gottgewollte Ordnung eh ein rotes Tuch. »Der bundesdeutsche Terrorismus entstand nicht durch Aktivitäten von Randfiguren der einstigen ›Außerparlamentarischen Opposition‹ (APO), … sondern der sogenannte ›bewaffnete Aufstand‹ und das ›Stadtguerilla-Konzept‹ waren schon sehr früh, Mitte der 60er Jahre, im Zentrum der APO diskutiert worden.« Für CDU-Bundestagspräsident Norbert Lammert bestätigt sich Jürgen Habermas’ einstiges Diktum vom »linken Faschismus« für die 68er, und die Wolfgang Kraushaar, Jan Phillip Reemtsma, Gerd Koenen oder Bettina Röhr – einst aus dem anderen Lager – geben heute die rechten Stichworte. Die Anmaßung einiger »Revolutionsromantiker«, Staat und Gesellschaft radikal in Frage zu stellen, soll stigmatisiert werden. Denn sie vertraten die damals wie heute bestrittene, für die Vor-68er-Bundesrepublik vernichtenden These, daß »erst und nur die Protestbewegung … Deutschland zu einem liberalen, lebenswerten Land gemacht« habe – so, mit Abscheu, noch einmal Bundestagspräsident Lammert.
Das Ende der Schröder-Fischer-Regierung war das Ende des vermeintlichen Projekts der 68er. Das Jahr 1968 ist nurmehr Problem der Vergangenheitsbewältigung. 1998 kamen jene in Regierungsposten, die 1968 sich politisiert hatten, die unterdessen aber anders und keineswegs nur gesetzter geworden waren. Das war keine Fortsetzung des Jahres ‘68 mit anderen Mitteln, sondern tatsächlich ein anderer Dritter Weg für eine »Neue Mitte«, die sich zum neoliberalen »Umbau« des Sozialstaates und dem Vorrang der Wirtschaft bekannte und nur noch Sozial-Camouflage betrieb. Mit diesem Scheitern verschiebt sich ungewollt die Frage: Öffnete 1968 die Gesellschaft für einen Wandel zu mehr Gerechtigkeit oder nur zu schnellerer Profitmaximierung?
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