Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 26. November 2007, Heft 24

Imperiale Abtrennung

von Erhard Crome

In der Euphorie der deutschen Vereinigungsvorgänge 1989/90 hatte jemand an eine Brücke geschrieben: »Wir fordern die Grenzen von 1250 – Neapel bleibt deutsch!« Hier war klar, es wurde die vielgelobte Einheit verspottet; von Leuten, denen die nationale Aufwallung gegen den Strich ging. In anderen Gegenden aber wird über historische Abläufe mit Wenn und Aber sehr ernsthaft gestritten. Die Schlacht auf dem Amselfeld im Kosovo am 28. Juni 1389, in deren Gefolge Serbien unter osmanische Herrschaft fiel, gilt als Beginn des serbischen Leidensweges, der bis in das 20. Jahrhundert reichte. Die Albaner, die später im Kosovo siedelten – waren das hinterhältige Nutznießer des osmanischen Jochs oder einfach Bauern, die dort Land fanden, nachdem andere es verlassen hatten?
Serbien war bereits im 19. Jahrhundert – als die Befreiung anderer Balkanvölker noch bevorstand – wieder ein unabhängiger Staat. Albanien wurde erst 1912 selbständig. Im Jahre 1878, als die europäischen Großmächte auf dem Berliner Kongreß nach dem vorangegangenen russisch-türkischen Krieg über die Neuordnung des Balkanraumes verhandelten, war die angereiste albanische Delegation, die auch für ihr Volk die Unabhängigkeit fordern wollte, nicht vorgelassen worden. Für Reichskanzler Bismarck und die anderen großmächtigen Herren war Albanien nur ein geographischer Begriff.
Im Zuge der Balkankriege 1912/13 wurden der Kosovo und andere Gebiete, in denen Albaner siedelten, von Serbien erobert. Es kam zu blutigen Vertreibungen und Neuansiedlungen – erst seitens der serbischen Eroberer, dann im Ersten und Zweiten Weltkrieg gegen die serbische Bevölkerung als Ausdruck der antiserbischen Vorgehensweise der deutschen Besatzer. Der albanische Staat blieb auf einem Teil des albanischen Siedlungsgebietes beschränkt. Tito, der Neubegründer Jugoslawiens, beließ es nach 1945 so, wie es war, und der Kosovo mit seiner albanischen Bevölkerung erhielt eine weitgehende Autonomie innerhalb der serbischen Teilrepublik Jugoslawiens.
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß angesichts der widersprüchlichen und blutigen Geschichte Europas mit ihrem Hin und Her von Kriegen, Herrschaften, Staaten und Völkern weder die wirklichen noch die mythologischen Abläufe taugen, um heutige Politik zu begründen, auch wenn von seiten der serbischen wie der albanischen Nationalisten im Zerfallsprozeß Jugoslawiens seit Ende der achtziger Jahre genau dies versucht wurde.
Da die nationalen, sich gleichsam gegenseitig ausschließenden Geschichtsdarstellungen keine Grundlage für eine Bewältigung der dortigen Probleme bieten, muß eine andere gefunden werden. Es bleibt nur das Völkerrecht, wie es im 20. Jahrhundert gesetzt wurde, und zwar unabhängig davon, ob man es im Einzelfall jeweils als gerecht empfindet. Ein zusätzliches Problem ist dadurch entstanden, daß nach dem Fiasko des Realsozialismus in Osteuropa die nationale Frage wieder auf die Tagesordnung kam. Es begann mit der bereits zitierten deutschen Einheit und setzte sich mit dem Zerfall Jugoslawiens, der Sowjetunion und der Tschechoslowakei fort. Die deutsche Vereinigung allerdings war – rechtlich gesehen – der Zusammenschluß zweier, zuvor unabhängiger Staaten, der von der Mehrheit der Bevölkerungen getragen wurde.
Der Zerfall der drei föderativen Staaten erfolgte entlang zuvor bestehender Grenzen zwischen Einheiten, die als Republiken bereits in der Föderation Staatscharakter trugen. Zudem gab es, zumal in der sowjetischen Verfassung, das Recht dieser Republiken auf Austritt aus der Union. Dieses Recht hatten die Autonomen Republiken innerhalb der Unionsrepubliken nicht. Und deshalb sind die Ukraine, Georgien, Armenien und die anderen früheren Unionsrepubliken jetzt selbständige Staaten, während die Tataren und Tschetschenen in Rußland und die Südosseten in Georgien darauf verwiesen sind, in der jeweiligen Republik zu verbleiben. Insofern ist das Auseinanderfallen der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens kein Argument für weitere nationale Unabhängigkeiten in Europa, weder für die Kosovaren von Serbien noch für die Basken von Spanien oder die Korsen von Frankreich.
Genau hier, im Kosovo, aber will der Westen jetzt den Präzedenzfall schaffen. Unter Hinweis auf Menschenrechtsverletzungen im Kosovo hatte die NATO am 24. März 1999 einen Luftkrieg gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien begonnen. Dieser Krieg war völkerrechtswidrig, eine Ermächtigung durch den UNO-Sicherheitsrat lag nicht vor. Der als Kriegsgrund angegebene Völkermord an den Albanern des Kosovo seitens der serbisch geführten Armee hatte, wie später zugegeben werden mußte, so nicht stattgefunden. Wie selbst in Deutschland später eingeräumt wurde, hatte die NATO faktisch als Luftwaffe der kosovo-albanischen UCK fungiert, die man zuerst als Terrororganisation, dann jedoch als Befreiungsarmee eingestuft hatte. Nach Einstellung der Kampfhandlungen wurde der Kosovo einer UN-Verwaltung unterstellt. Zugleich legte die diesbezügliche UNO-Resolution 1244 fest, daß der Kosovo Teil Jugoslawiens, das heißt der Serbischen Republik, bleibt und eine Regelung nur im Einvernehmen mit der Belgrader Regierung erfolgen kann.
Im Jahre 2005 hatte der UNO-Generalsekretär den früheren finnischen Staatspräsidenten Ahtisaari als Sonderbeauftragten eingesetzt, der mit der serbischen und albanischen Seite verhandeln und dann einen Vorschlag zum künftigen Status des Kosovo unterbreiten sollte. Da die Verhandlungen keinen Kompromiß ergaben, legte Ahtisaari im März 2007 einen eigenen Plan vor, nach dem der Kosovo nach einer Übergangsfrist die staatliche Unabhängigkeit erhalten sollte. Das traf auf vehemente Kritik Rußlands, das ja weiter Ständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrates ist, und Serbiens. Daraufhin wurde eine »Troika«, bestehend aus den USA, Rußland und der EU gebildet, die nun mögliche Spielräume ausloten soll. Die EU wird durch einen deutschen Botschafter vertreten, das heißt, Deutschland ist an diesen Vorgängen direkt beteiligt.
Am 10. Dezember 2007 soll der Troika-Vorschlag veröffentlicht werden. Es wird mit einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo gerechnet. Die USA und die meisten Mitgliedsstaaten der EU, so heißt es, würden den Kosovo dann anerkennen. Danach werde die EU eine »Kosovo-Mission« einsetzen und bis zu 1800 Polizisten, Richter und Staatsanwälte entsenden. Nachdem Deutschland bereits Anfang der neunziger Jahre die Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens einseitig anerkannt hatte, ohne die Verhandlungen zwischen den Republiken über die Auflösung Jugoslawiens abzuwarten, was die Zerfallskriege eher beschleunigte denn eindämmte, wäre dies ein nächster Schritt, eine Politik gegen Serbien zu betreiben. Der Kosovo würde dann Protektorat der Europäischen Union. Die USA und die NATO haben dort ihre Stützpunkte.
Die Neuordnung der Welt würde fortgesetzt werden, und zwar auf der Grundlage der Macht und unter Bruch des Völkerrechts. Die baskischen und korsischen Nationalisten und andere werden das genau beobachten. Die EU holt sich damit das Problem, das sie jetzt Serbien bereitet, ins eigene Haus.