Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 1. Oktober 2007, Heft 20

Tanzender Minotauros, der uns das Tanzen lehrt

von Jens Knorr

Als sich 1946 ein Journalist nach den nächsten Plänen des 83jährigen Richard Strauss erkundigte, soll der geantwortet haben: »Na, sterben halt!« Hans Werner Henze ist 81, und uneingestanden erwarten wir mit jedem neuen Werk, daß es eines des Hinübergehens sei, uns einen Zipfel jenes Drübens erhaschen läßt, das wir aus den Noten herauszuhören vermeinen oder in die Augen des greisen Meisters hineinsehen, wenn er aus der Königs-Loge auf uns blickt oder durch uns hindurch, die wir ihm stehend applaudieren, oder das vielleicht wirklich in seinen Augen liegt, wenn er aus dem Fenster seines Hauses sieht, südöstlich von Rom in den Albaner Bergen, wo gerade Hippolytos mit seinem Pferdefuhrwerk vorbeigehen könnte und den Komponisten grüßen, oder auf die Landschaft des Lago di Nemi, ein See in einem erkalteten Krater, unweit seines Wohnsitzes.
In ihr Heiligtum an den Ufern des Lago di Nemi brachte Artemis einst die Teile, die Hippolyt gewesen waren, bevor ihn seine Rosse zu Tode geschleift hatten, und setzte sie neu zusammen, damit er als Virbius fortan der Göttin diene. Bis hierhin folgt das Libretto des Lyrikers Christian Lehnert, 1969 in Dresden geboren, dem antiken Mythos, wie ihn Euripides, Ovid, Seneca, Racine, Sarah Kane überliefert und überschrieben haben: Phaedra liebt ihren Stiefsohn Hippolyt, und Aphrodite liebt Hippolyt durch Phaedra, der aber liebt nicht Frau noch Mann nur die Jagd, und darum liebt Artemis ihn. Phaedra beschuldigt Hippolyt bei ihrem Gatten Theseus der Vergewaltigung und erhängt sich. Poseidon läßt auf Theseus’ Bitten ein Meerungeheuer aufsteigen, das die Pferde Hippolyts scheumacht, der vom Wagen fällt und sich in den Zügeln verfängt.
Das Ungeheuer ist der Minotauros, den Theseus einst geköpft, Poseidon aber in das Meer zurückgeholt hatte, woraus er ihn einst hatte aufsteigen lassen. Der Schrei, der als Echo auf sich selbst trifft: Minotauros – er benennt das Schicksal, das Aphrodite, Phaedra, Artemis und Hippolyt teilen, und die Urtat aller fehlgeleiteten, unerwiderten, in Haß umschlagenden oder sublimierten Liebe, die Paarung von Mensch und Tier. Das Echo der Sage, das in der Eingangsszene von Hans Werner Henzes Konzertoper Phaedra auf sich selbst trifft und wieder zum Schrei wird: Theseus – es benennt den Schlächter und Befreier, der den Stierkopf vom Menschenkörper, das Tier vom Menschen trennte.
Weil nicht zusammenkommen kann noch darf, was die Muse streng geteilt, Mythos und Geschichte, Liebe und Begehren, Hören und Sehen, Menschen und Götter, Menschen und Menschen, gehen sie weiter um und um, die alt gewordene Jagdgöttin, das Vogelwesen aus der Unterwelt, das Phaedra war, die eine Bardame ist, die strahlende Liebesgöttin und Virbius Hippolyt, wartend auf die Rückkehr der Zeit, und auch die Maske des Minotauros, wer immer sich dahinter verbergen mag, tanzend zum Ende der Oper wie zu ihrem Beginn – die doch wahrhaftig mit dem Naturton Es anhebt, dem Urton allen Werdens, nicht in den Bässen, aber in Klavier und gestopften Posaunen –, einen Tanz, von dem sich Hippolyt erfassen läßt, Waldgott oder König der Wälder, auf einen Stock gestützt, vielleicht 81 Jahre alt. Die Schlußszene – Schlußapotheose? –, welch frühlingshafter, lebenssüchtiger Ausklang der so durchsichtig verschlüsselten Partitur, mit Weglassungen übervoll, einer Partitur der Rückschau, des Ermüdens und mit Leerstellen, die Natur- und Alltagsgeräusche vom vorgefertigten Tonband füllen, einer Partitur, nicht rätselhafter als unsere Gegenwart: »Wir dringen zur Sterblichkeit vor und tanzen.«
Die Nähe zu Paul Dessaus, des Mentors und Freundes, letzter Oper Leonce und Lena ist so evident wie beider Werke verdeckter Bezug auf die Ariadne von Richard Strauss. Henzes Kammerorchester ist mit 25 Spielern besetzt, die Streicher solistisch, Bläser und Schlagwerk jeweils mit zwei Spielern, die Zahl der gespielten Instrumente sehr viel höher.
Das Ensemble Modern und Dirigent Michael Boder plaziert der isländische Raumkünstler Olafur Eliasson in der Berliner Staatsoper Unter den Linden nicht, wie vom Komponisten vorgesehen, auf die Bühne, sondern in den hinteren Parkettbereich, unter den Rang. Die Bühne nimmt er für seine Licht- und Rauminstallationen in Beschlag, die eine neue Art des Hörens und Sehens generieren sollen. Ein Metallring schlägt Licht zu Kreisen, eine Discokugel zerschlägt Licht in Splitter, ein Kaleidoskop vervielfältigt den Körper Hippolyts, ein Spiegel spiegelt Zuschauerraum, Musiker und Zuschauer oder läßt alles Licht und aller Blicke hindurchgehen auf die Bühne. Aber die bleibt tot. Denn mindestens einer von beiden, Lichtkünstler oder Regisseur, scheint dem Male couple nicht gewachsen.
Uninszeniert, aber bedeutungsvoll, betreten die Sänger den Blumensteg, der vom Orchesterpodium zur Bühne führt, von der Musik in die Szene und zurück, doch verlangt ihnen nichts und niemand szenisches Handeln ab, das irgend belangvoll wäre. Psychische Vorgänge, von denen Henzes Figuren erzählen, projiziert Regisseur Peter Mussbach auf die Erzählenden. Tänzelt die Musik, so tänzeln auch die Sänger, gibt sie sich kokett, kokettieren auch sie. Und ein geschlossener Flügel kommt alten Theatergäulen gerade recht für eine gute Nummer. So bleibt Maria Riccarda Wesseling, Marlis Petersen, John Mark Ainsley, Axel Köhler und Lauri Vasar nur, sich auf ihre ureigenste Ausdrucksform, den Gesang, zu beschränken.
Hans Werner Henzes unwiderruflich letztes Bühnenwerk arbeitet an der Aufhebung eines Weltbetrachtens, das, aller Dialektik vergessen, sich in Dualismen erschöpft. Die Inszenierung der Uraufführung vollstreckt bewußtlos, was die Musik beklagt. Ließe sie uns die Musik sehen, könnten wir sie vernehmen.