von Stefan Bollinger
Der Mord an den Juden hat sich in das Völkergedächtnis eingegraben. Der Schrecken bleibt, wenngleich der Umgang mit ihm mitunter modischen Schwankungen und politischer Zweckmäßigkeit unterworfen ist. Das erleben wir gerade in Deutschland mit immer neuen Hitler-Remakes à la Guido Knopp, mit traurigen Untergangs-Szenarien und entschuldigenden DDR-Flucht-Dramen im TV-Quotenrennen. Wenn die kommunistische Alternative so schrecklich war, relativiert sich Nationalsozialismus. Wenn Deutschland wieder eins und groß ist, dann brauchen wir eine normalisierende Geschichtsdarstellung.
Anfang des Jahres hat Daniel Levis Mein Führer jüngst Publikum und Feuilleton ein wenig entzweit. Der Diktator, der Mörder als Mann mit Depressionen und Kindheitstrauma, eigentlich bemitleidenswert. Was Chaplin im Großen Diktator oder Lubitsch in Sein oder Nichtsein zeitgenössisch so überzeugend und entlarvend hinbekamen und was schon nach den Bildern mit Leichenbergen aus Auschwitz und Buchenwald doch von einer anderen Welt war, kann in der Jetztzeit nur irritieren. Das ist aber kein Wunder. Wir wissen nun alles über Hitlers Blondi (nicht Eva, sondern den Schäferhund), wir voyeurieren in der Akte Hitler und können fast jeden Tag auf einem der TV-Kanälen den Führer auch in bunt sehen. Ein Mensch wie du und ich, verklemmt, verbohrt, verzweifelt, verbrecherisch.
Hintergründe, die Verwurzelungen in deutsch-nationalistischen und imperialistischen Weltmachtansprüchen, werden ebenso verdunkelt, wie die Suche nach Mittätern, Finanziers und Wegschauenden unterbleibt. Hier wird diese Praxis als Tugend zumindest für das Dritte Reich gepflegt. Dafür darf wenigstens die andere deutsche oder besser sowjet-kommunistische Diktatur nicht historisiert werden.
Anderswo scheint die neue Welle normalisierender Entsorgung noch nicht angeschwappt. Versteckt auf Oslos Museums-Insel Bygdøy, nicht weit von Norwegens größtem Freilichtmuseum und wenige Busstationen von Vikinger-Schiffen und Nansens Fram, findet sich eine Villa Grande. Der protzige Industriellenbau erlangte traurige Berühmtheit, weil hier Vidkun Quisling 1942 bis 1945 residierte. Damals firmierte das Haus als Villa Gimle, nach dem mythologischen Versammlungsort der gescheiterten nordischen Götter. Realiter war es schlimmer, war es Schaltzentrale und Rückzugspunkt des Führers der Nasjonal Samling und norwegischen Kollaborations-Ministerpräsidenten. Vom Villenturm konnte er die Deportation der norwegischen Juden verfolgen, deren Großteil am 27. November 1942 auf dem bereits mit sowjetischen Kriegsgefangenen überfüllten Schiff Donau die Fahrt nach Stettin und dann in Richtung der Krematorien von Auschwitz antrat. Von den 2100 Juden in Norwegen ereilte dieses Schicksal wohl 770, von denen nur dreißig überlebten.
Heute soll in dieser Villa, in der am 9. Mai 1945 Quisling dem norwegischen Widerstand in die Hände fiel, nicht nur der Opfer gedacht werden. Ein HL-Senteret (Zentrum), dessen Kürzel für Holocaust und für livssynsminoriteter – dem norwegischen Wort für religiöse Minderheiten – steht, angebunden an die Osloer Universität, ist hier 2006 mit königlicher Beteiligung eröffnet worden. Norwegens Fører, Kollaborateure und Nazi-Besatzung sind hier nicht Thema für eine entspannt-nachdenkliche, mit grotesker Komik durchzogene Beschau, sondern Anlaß für pädagogisches wie geschichtspolitisches Neubesinnen auf jüngere Geschichte. Eine moderne Ausstellung mit vielen Informationen, vornehmlich norwegisch, teilweise englisch, soll helfen, die Voraussetzungen von Antisemitismus und Holocaust faßbar zu machen. Immerhin war auch Norwegen nicht frei von Ressentiments, brauchte es bis 1851, um Juden volle bürgerliche Rechte, vor allem ein unbegrenztes Niederlassungsrecht, zu gewähren. Das Zentrum sieht sich heute in der Pflicht, zum Schicksal der Juden, aber auch anderer Minderheiten wie den Roma zu forschen. Gleichzeitig will es die Auseinandersetzung mit anderen Massenmorden und Menschenrechtsverletzungen der jüngeren Geschichte und der Gegenwart: So wird an den Mord an den Armeniern ebenso erinnert wie an die Kurdenverfolgungen im Nordirak, an die Völkermorde in Kambodscha oder in Ruanda. Ebenso stehen die Opfer der maoistischen Kulturrevolution im Fokus.
Die Forscher konzentrieren sich auf die Verstrickungen Norwegens in die NS-Politik, etwa durch den Dienst von sechstausend Norwegern in der SS, aber auch auf die Entwicklung eines aktiven Geschichtsbewußtseins. So sind Schulklassen kein ungewohnter Anblick in den Museumsräumen, auch wenn das unbekümmerte Umhertollen zwischen den ernsten Ausstellungsobjekten zumal von eindeutig muslimischen Schülerinnen und Schülern denn doch hohe Erwartungen an die agierenden Pädagogen weckt.
Der breite Ansatz des HL-Zentrums wird in besonderer Weise durch die unmittelbar vor der Fassade aufragende, acht mal vier Meter große gläserne Installation des in Deutschland lebenden US-Künstlers Arnold Dreyblatt im Wortsinne beleuchtet. Dessen Unschuldige Fragen thematisieren die Fragebögen, die Quislings Verwaltung von den Juden ausfüllen ließ. Die Installation zitiert die IBM-Kerblochkarte für die Hollerith-Maschinen, damals Stand der Technik und auch in Deutschland praktisch an der Machtsicherung des Hitler-Regimes beteiligt. Nur: Unschuldige Fragen werden auch heute gestellt, Daten gesammelt, offen für Mißbrauch, Repression, Freiheitsberaubung, Mord.
Manch deutscher Pressebericht zur Eröffnung des HL-Senteret 2006 war mit einem Seitenhieb geschrieben, daß sich die Norweger endlich auch ihrer Mitschuld am Judenmord erinnern, wo sie sonst nur den Kampf ihres Untergrunds und den passiven Widerstand zur Heldengeschichte verklärten. Abgesehen vom bekannten Glashauseffekt: Sich ihrer Kollaborateure und Verräter erinnern, mag wohl keine Nation gern. Allerdings sind Geschichte und Erinnerung der Norweger durchaus reich, und ihre Heldengeschichten waren – ob im Verteidigungs- oder im Widerstandsmuseum auf der ebenfalls vom Turm der Villa Grande gut zu sehenden Feste Akershus – eindeutig. Ein Denkmal würdigt nicht wenige erschossene Widerständler, und ein nicht ganz so modernes, nichtsdestoweniger emotionsgeladenes Widerstandsmuseum Hjemmefrontmuseum vergegenwärtigt den Kampf gegen Okkupanten und einheimische Helfershelfer. Auf Akershus fand denn auch Quisling 1945 sein Ende vor einem Exekutionskommando.
Geschichte ist in Norwegen bis heute präsent – und eine besondere Affinität gegen Unrecht und Krieg, trotz seiner NATO-Treue und seinem Engagement auf dem Balkan und in Afghanistan.
HL-Senteret Villa Grande, Huk Aveny 56, 0287 Oslo – http://www.hlsenteret.no, dienstags bis freitags 10 bis 16.30, samstags/sonntags 11 bis 16.30 Uhr
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