von Helmut Höge
Laut einer Umfrage der Hermes Kreditversicherung entsteht der Berliner Ökonomie jedes Jahr durch den »Klau am Arbeitsplatz« ein Schaden von 1,75 Milliarden Mark. Das ist grober Unfug! Wie einem jeder – nicht auf den Kopf gefallene – Unternehmer versichern kann, »reorganisieren« die Mitarbeiter gerade mit Diebstählen ihre immer wieder durch den Profitzwang zerstörte Unternehmensbindung. Ein Berliner Funkgerätehersteller erzählt: »Ich sehe das sogar gern, wenn meine Angestellten Geräte oder Werkzeug mit nach Hause nehmen, das ist eine ebenso effektive wie kostengünstige Weiterbildung nach Feierabend. Nur einmal habe ich einen Mitarbeiter angezeigt: Der hatte einen Keller angemietet und die Sachen weiterverkauft.«
Der Berliner Kurier ließ die Hermes-Umfrage durch einen Arbeitsrechtler kommentieren: »Klauen berührt immer das Vertrauensverhältnis« – und »rechtfertigt generell eine fristlose Kündigung.« Seitdem der Kurier einem Westkonzern gehört, gelten dort sogar telefonische Privatgespräche am Arbeitsplatz als eine Art Diebstahl. Bei der taz kann man dagegen ohne schlechtes Gewissen alles benutzen: Telefon, Kopierer, Faxgerät, Frankiermaschine etc., sogar Disketten, Papier und Ordner werden einem gerne nach Hause mitgegeben. Dieser »Großzügigkeit«, die auch ein vor einiger Zeit eingestellter »Sparkommissar« nicht beschnitt, liegt – wie übrigens genauso in japanischen Betrieben – der Gedanke zugrunde, daß dadurch die Identifikation mit dem Betrieb gestärkt werde.
Zwei Berliner Getränkeauslieferungsfirmen machten die Probe aufs Exempel: Die eine kontrollierte ihre Mitarbeiter, die andere nicht. Bei der letzteren war nicht nur das Betriebsklima weitaus besser, es rechnete sich auch, denn die Kontrolle ist teuer, und außerdem fühlten sich die Mitarbeiter herausgefordert, die Kontrolleure ständig zu überlisten: »Alle Tage Sabotage!«
Der Registrierkassen-Hersteller NCR muß jedes Jahr ein neues Kassenmodell auf den Markt bringen, weil spätestens nach dieser Zeit Kassierer und Kellner das System »geknackt« haben. Aus einem ähnlichen Grund sind Supermarktkonzerne – allen Betriebsführungstheorien zum Trotz – an einer hohen Fluktuationsrate in ihren Filialen interessiert: Sobald sich jemand eingearbeitet hat, fange er auch schon an zu klauen – übrigens seien Frauen dabei weitaus mutiger als Männer. Bei Karstadt werden die Mitarbeiterinnen am Ausgang nach dem Zufallsprinzip kontrolliert. Auch bei Opel in Eisenach wurde dies neulich – von General Motors – eingeführt. Weil zur gleichen Zeit einige Mitarbeiter von Opel Gleiwitz dort hospitierten, meinten die Eisenacher, dies geschähe nur wegen der Polen. Mit diesem Selbstbetrug wollten sie sich ihre noch hohe Betriebsidentifikation erhalten.
Die schärfsten Kontrollen gibt es in den Seehäfen beim Löschen durch die internationale Firma Controllco. Dennoch ist es ihr, wenn die Hafenarbeiter an einer Ladung interessiert waren, noch nie gelungen, einen Diebstahl zu verhindern, und deren Interesse ist schon wegen der Kontrollen »Ehrensache«.
Bei Opel in Rüsselsheim gab es einmal eine gut verankerte Sponti-Betriebsgruppe. Die ließ ein Flugblatt verteilen, in dem es hieß: »Einen Schraubenzieher mitgehen lassen, macht 8,60 Mark, eine Rohrzange macht 28,40 Mark … und so weiter. Das reicht aber noch nicht: Deswegen 1 Mark mehr für alle pro Stunde!« Fast schmissen die Arbeiter die Betriebsgruppe deshalb raus, weil zwar alle klauen und das auch jeder weiß, aber keiner darüber spricht. Ähnlich verhielt es sich bereits mit Dostojewskis Bericht über seinen sibirischen Gefängnisaufenthalt, Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (1860): Die Kriminellen nahmen es ihm übel, daß er darin einige ihrer Überlebenstricks »verraten« hatte – und wollten deswegen noch lange Zeit danach aus einem »Dostojewski« nichts vorgelesen bekommen.
Für 250000 Mark Waren stehlen Berliner Verkäufer angeblich täglich – und was ist mit den steigenden Mieten, Steuern, etc. und dem miesen letzten HBV-Tarifabschluß? »Wir sind noch lange nicht quitt!«, sagte neulich meine Lieblingskassiererin im Kreuzberger PLUS-Markt – und vergaß prompt, einen Kasten Bier unten in meinem Einkaufswagen abzurechnen. Auch das gibt es: uneigennützigen Diebstahl! Eine besonders edle – weil gemeinschaftsstiftende – Form der Kriminalität.
In der DDR und noch mehr in der UdSSR – wo fast alles vergesellschaftet wurde – galt der Diebstahl fast als rechtens. Ein Sportlehrer aus Luckau rechtfertigte seine Privatisierungen von Volkseigentum stets mit den Worten: »Erich Honecker hat doch selbst gesagt ›Wir können noch viel mehr aus unseren Betrieben rausholen«.« Weil in Rußland auch heute noch massenhaft die mageren Löhne durch Diebstahl ausgeglichen werden, sprechen die Soziologen dort »wertneutral« von »nichtformellen Einkünften«. Dabei gelte es aber, die Balance zu finden: »Wenn die Belegschaft zu wenig klaut, kommt sie nicht über die Runden, wenn sie zu viel klaut, geht ihr Betrieb pleite.«
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