Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 29. Oktober 2007, Heft 22

Leiden und leiden lassen

von Reinhard Stöckel

Das schöne Leidensgesicht der Veronica Ferres zog mich in eine manichäische Welt: Da waren die Guten, dort die Bösen. Immerhin auch die Bösen litten, an Magenschmerzen zum Beispiel. Ich hätte auch gelitten, wenn ich eine Frau wie die Ferres hätte einsperren müssen.
Nach dem Fernsehfilm, den Bauch gefüllt mit Chips und Bier, murmelte ich schon im Halbschlaf: »Ich muß in den Knast …« Meine Frau saß sofort aufrecht im Bett und rüttelte mich: »Waas? Was ist passiert?!«
Nichts war passiert, außer daß Die Frau vom Checkpoint Charlie mein Interesse für die verblichene DDR wiedererweckt hatte, für die dunkle Seite von Brigadefeier, Trabbi, Ostseestrand. Der 7. Oktober (sic!) bot Gelegenheit, diesem Drang zu folgen:
Ehemalige politische Gefangene hatten eingeladen in das ehemalige Cottbusser Gefängnis in der Bautzener Straße. Hunderte drängten sich an diesem Sonntagvormittag auf dem Hof des Gefängnisses. Am Rand hinter einem Stand ein Mann in Gefängniskleidung, an einem Gelenk baumeln Handschellen. Irritiert sehe ich mich um, dreht die ARD hier einen dritten Teil; aber wo ist die Ferres?
Die Zellen sind leer. An den Wänden bleistiftgezeichnete Christusbilder und halbnackte Covergirls, dazu Inschriften in Polnisch oder anderen osteuropäischen Sprachen. Auf den Fluren haben Sprayer ihre Zeichen hinterlassen. Im Gelände Stacheldraht metallisch glänzend und rasiermesserscharf, wie eben ausgerollt und liegengelassen, weil Pause ist … Ach ja, Cottbus hat ja jetzt woanders einen neuen Knast.
Der Mann hinterm Stand ist wohl doch echt: Er verteilt unter anderen Handzettel über einen seiner ehemaligen Bewacher: Hub ert Schulze, genannt Roter Terror, ist 1997 zu zwei Jahren und acht Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden, weil er den Häftlingen »den Sozialismus schon noch einprügeln« wollte. Erreicht hat er wahrscheinlich das Gegenteil: Den letzten Rest linker Überzeugungen aus denen geprügelt, die nicht »nur in den Westen«, sondern die einen menschlichen Sozialismus wollten. Diejenigen, die ihre Bewacher mit einem Hitlergruß herausforderten, paßten wohl eher ins Weltbild eines Hubert Schulze.
Da seien aber auch Schließer gewesen, so ein anderer Ex-Häftling, die hätten sich ihre Menschlichkeit bewahrt. So habe der sogenannte Königsberger Gefangenen, die getrennt untergebracht waren, schon mal gegen die Vorschrift für ein zwei Stunden gestattet, einander zu besuchen.
Im Cottbuser Gefängnis, recherchierte die Lausitzer Rundschau, saßen zeitweise statt der vorgesehenen 600 Insassen bis zu 1400 Menschen, davon in der Endzeit der DDR achtzig Prozent politische Gefangene. Einer von ihnen, der 26jährige Werner Greifendorf, übergoß sich 1978 im Gefängnishof mit Farbverdünner und zündete sich an. Er hatte lediglich einen Ausreisantrag gestellt. In den Achtzigern, so die Angaben der Cottbuser Häftlingsgemeinschaft, seien jährlich etwa 1200 Gefangene in den Westen entlassen worden, Preis 50000 bis 120000 DM.
Zu ihnen gehörte der Schriftsteller Siegmar Faust. Faust, einst marxistisch denkender Student, wurde im ereignisreichen Jahr 1968 zum Operativen Vorgang »Literat«. In den Siebzigern saß er wegen »staatsfeindlicher Hetze« insgesamt 33 Monate im Gefängnis, davon mehr als 400 Tage Einzelhaft in Cottbus. Sein Mittel, dies zu ertragen, war eine illegale Knastzeitung gewesen, die er aus naheliegenden Gründen Armes Deutschland nannte.
Jetzt steht Faust in der Tür einer Arrestzelle im Keller von Haus 2. Und er spricht, als läge seine Haftzeit nicht dreißig sondern drei Jahre zurück: leidenschaftlich, manchmal anklagend und sein eignes Schicksal im nächsten Satz relativierend. Damals, sagte er im Dämmerlicht des Kellerfensters, war es hier nicht so hell, da waren Blenden vor den Fenstern. Feuchtkalt kriecht es aus den Wänden, und ich schließe meine Jacke. Damals, sagt Faust, lagen wir nachts auf Lattenrosten in den ungeheizten Kellerzellen mit nur einer Decke. Diese Decken seien von den Kalfaktoren abends in die Zellen gereicht worden, und einmal habe er darin eine Zwiebel gefunden. Ohne solche Vitaminstöße und Zeichen der Solidarität hätte er wahrscheinlich heute keine Zähne mehr.
Er habe, erzählt Faust weiter, mangels anderer Lektüre in der Gefängnisbibliothek, die Erinnerungen antifaschistischer Widerstandkämpfer gelesen, Fritz Selbmann beispielsweise. Der hätte entweder durch unverblendete Fenster oder aber bei der morgendlichen Rasur vor der Zellentür mit den anderen kommunizieren können. Dies, sagte Faust, sei ihm in den Siebzigern nicht möglich gewesen. Also, erinnert sich Faust, habe er damals gefolgert, sei es den Kommunisten unter den Nazis – vor dem Krieg, betont er – besser ergangen als seinesgleichen in der DDR.
Ist das die einzige Frage, die am Ende bleibt: Wer hat mehr gelitten? Im Angesicht der Arrestzellen schweige ich und höre weiter zu.
Später auf der Podiumsdiskussion wird Faust seine Feststellung verkürzen und ausrufen: Den Kommunisten ging es doch unter den Nazis besser als uns unter den Kommunisten. Der darauf folgende spontane Applaus, verschafft mir eine Ahnung davon, wie schwer die Wahrheit mit sich umgehen und wie leicht sie sich instrumentalisieren läßt.
Wird hier etwa doch ein Film gedreht? Ein Spot zur nächsten Wahl? Ich dränge mich durch die dichte Traube der Zuhörer vor. Tatsächlich: Auf dem Podium fast ausschließlich Mandats- und Funktionsträger der CDU. Nur, meine lieben Grünen, Blaugelben, Rot- und Rosaroten, ist das ein Grund an diesem Sonntagvormittag im Bett zu bleiben?
Einen, den ich schätze, hörte ich abschätzig sagen: »Ach, die Opfer …« Von einem anderen, dem ich zum Glück nie begegnete, las ich die Meinung »Die DDR war ein Rechtsstaat« (Lausitzer Rundschau vom 6. Oktober 2007). Joachim Masula muß es wissen, er war bis 1989 Abteilungsleiter des MfS in Cottbus. Heute ist Masula stellvertretender Chef der Partei Die Linke in Cottbus. Wie heißt es doch: Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde.
Vielleicht dreht die ARD ihren nächsten filmischen Versuch von Geschichtsaufarbeitung ja in Cottbus. Den sehe ich mir an; aber nur wenn die Ferres mitspielt. Die kann so schön leiden.

Cottbuser Häftlingsgemeinschaft: http://www.uokg.de/cottbus.htm