von Erhard Crome
Malalai Joya war im September in Berlin. Sie wurde weltbekannt, weil sie als jüngste Abgeordnete und noch dazu als Frau in der Eröffnungssitzung der neugewählten Loya Dschirga, der verfassungsgebenden Nationalversammlung Afghanistans, im Jahre 2003 angeprangert hatte, daß die Mörder und Gewalttäter, die Warlords und Drogenbarone, die Afghanistan ins Verderben gestürzt hatten, nun im Parlament sitzen. Nach drei Minuten wurde ihr das Rederecht entzogen und anschließend ihr Mandat kassiert.
Der Westen, der im Dezember 2001 auf dem Petersberg bei Bonn die neue afghanische Regierung nach dem Sturz der Taliban aus der Taufe gehoben und den Wahlprozeß in Afghanistan dazu festgelegt hatte, war ein Bündnis mit den Mördern von gestern eingegangen. Der Teufel sollte mit Beelzebub ausgetrieben werden: Um gegen die eben gestürzten Taliban Verbündete zu haben, wurde ein Pakt mit den Mudschaheddin-Führern eingegangen, die erst vom Westen gegen die sowjetische Besatzung gepäppelt worden waren, dann von 1992 und 1996 sich gegenseitig bekämpft, das Land in Gewalt und Gesetzlosigkeit gestürzt und in Schutt und Asche gelegt hatten, und die dann schließlich von den Taliban vertrieben worden waren.
Bei den Parlamentswahlen 2005 wurde Malalai Joya wiedergewählt, ihr Abgeordnetenmandat jedoch mittlerweile erneut suspendiert. Sie stört. Ihre Kritik richtet sich nach wie vor dagegen, daß die Fundamentalisten, die Mörder und Vergewaltiger im Parlament sitzen, dort die Mehrheit bilden und inzwischen durch Präsident Karsai amnestiert wurden. Das afghanische Volk ist zwischen zwei Feinde geraten, die Taliban auf der einen und die Kriegsfürsten auf der anderen Seite. Der Unterschied zwischen beiden ist nur, daß die ersten Feinde und die zweiten Verbündete der USA sind; Vergewaltiger und Mörder sind sie beide. Gewiß, im afghanischen Parlament sind 68 der 249 Sitze durch Frauen besetzt, die meisten jedoch sind Angehörige der Oberschicht, selbst Fundamentalistinnen und mit den Clans der Warlords liiert. In bezug auf die Lage der Frauen gibt es Fortschritte in Kabul und anderen Städten, die Lage in den Provinzen, auf dem Lande jedoch ist weiter katastrophal. Nur jedes fünfte Mädchen geht heute – im Landesdurchschnitt – in eine Grundschule, eines von zwanzig in eine weiterführende Schule. Malalai Joya sagt, daß die Situation für die Frauen in Afghanistan heute schlimmer ist als unter den Taliban. Hunderte Frauen verbrennen sich selbst oder erhängen sich, weil sie keinen Ausweg mehr sehen. Achtzig Prozent der Ehen sind erzwungen. Das Morden und Vergewaltigen im Reich der Kriegsfürsten und Drogenbarone geht weiter. Eine Elfjährige wurde von einem Warlord vergewaltigt und danach gegen einen Hund getauscht. Eine Vierzehnjährige wurde von einer Gruppe Bewaffneter vergewaltigt und anschließend erschlagen. Malalai Joya zählt konkrete Fälle auf. Das Fazit ist: Frau zu sein in Afghanistan heißt im Normalfall, nicht zur Schule gehen zu dürfen, nicht den Mann der eigenen Wahl heiraten zu dürfen, sondern einen anderen heiraten zu müssen, nicht allein auf die Straße gehen zu dürfen, nicht ohne Einwilligung des Mannes medizinische Hilfe in Anspruch nehmen zu dürfen … Die Liste ist lang.
Nun könnte man sagen, das ist in Afghanistan, dort tobte dreißig Jahre lang Krieg, und der hatte eine allgemeine Verrohung zur Folge. Auch in anderen Kriegen waren und sind die Frauen in besonderer Weise Opfer, der zerstörten gesellschaftlichen Verhältnisse wie der Kriegsgreuel. Auch im früheren Jugoslawien waren Massenvergewaltigungen der Frauen der jeweils anderen Gruppe absichtsvoller Teil der Kriegsführung. In Somalia, Sudan und anderen Orten der Kriege des 21. Jahrhunderts ist es nicht anders.
Bei näherem Hinsehen jedoch erweist sich, daß nicht nur die Kriege und Konflikte außerhalb der scheinbar heilen Welt des Westens ein spezifisch weibliches Gesicht haben, sondern auch unsere eigenen gesellschaftlichen Verwerfungen. Liest man Armutsberichte, so sind alleinstehende Frauen und ältere Frauen stärker von Armut betroffen als der Durchschnitt der in Deutschland Lebenden. Der sogenannte Transformationsprozeß der osteuropäischen Länder nach dem Kommunismus hat frühere Sicherungen, die Frauen Arbeit und Beruf in Einklang zu bringen und zugleich Unabhängigkeit vom Mann ermöglichten, beseitigt. Das »neue« Scheidungsrecht, das die Frau wieder an den früheren Ehemann band, und die Verschärfung des Abtreibungsrechts haben dies auch für die Frauen aus der DDR bewirkt. Etliche Debatten in Deutschland heute laufen darauf hinaus, »Fahrräder zu erfinden«, die es da schon gab. Schaut man auf die Beschäftigungsbilanz des Neoliberalismus, so hat er für viele Frauen mit höherer Bildung und aus wohlhabenderen Schichten in Beruf und Gesellschaft größere Möglichkeiten gebracht, oft allerdings um den Preis des Verzichts auf Kinder. Im Niedriglohnsektor jedoch sind auch in Deutschland überwiegend Frauen beschäftigt, das heißt auch hierzulande haben prekäre und schlecht bezahlte Jobs überwiegend ein weibliches Gesicht.
Karl Marx schrieb, bereits im Jahre 1844, daß das Verhältnis des Mannes zur Frau »das natürlichste Verhältnis des Menschen zum Menschen« sei; in ihm zeige sich, in welchem Maße »das natürliche Verhalten der Menschen menschlich« geworden sei. Insofern ist die Emanzipation der Frauen, deren tatsächliche Gleichheit das Kriterium einer demokratischen oder zumindest positiven Veränderung von Gesellschaft überhaupt – im 21. Jahrhundert noch deutlicher als früher.
Schließlich sei noch erwähnt: Malalai Joya betont, Afghanistan brauche Hilfe statt Besatzung. Der Kurs der USA sei falsch. In Afghanistan werde die Demokratie nicht eingeführt, sondern verhöhnt, der Terrorismus nicht bekämpft, sondern geschaffen. Die ausländischen Truppen würden als Besatzer wahrgenommen. Sie sollten abgezogen werden. Heike Hänsel, Bundestagsabgeordnete der Linken, hatte Malalai Joya nach Deutschland eingeladen, wo sie im »Entwicklungspolitischen Ausschuß« des Bundestages reden durfte. Der Auswärtige Ausschuß hatte ihr dies verweigert. Dort wollte Herrn Steinmeier nur die Stimmen der Kabuler Regierung hören, die für den Verbleib der deutschen Truppen am Hindukusch sind. Solange die Verhältnisse so sind, wie sie sind, wird sich für die große Mehrheit der Frauen dort nichts ändern.
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