Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 1. Oktober 2007, Heft 20

Emanzipation und Analyse

von Kai Agthe

Von Lou Andreas-Salomé (1861-1937) geht eine große Faszination aus. Das ist zunächst mit ihrer Persönlichkeit zu erklären. Was Felix Salten über die Wirkung schrieb, die von Lou Salomé ausging, ist repräsentativ: »Lou Andreas-Salomé (…) war eine hohe Erscheinung von eigenartiger sanft gebietender Schönheit, eine adelige Seele, ein königlicher Geist.« Mit der aus St. Petersburg gebürtigen Tochter eines russischen Generals verbindet der Leser auch das Bild einer Frau, »die sich ihren Lebensweg entgegen aller Konvention gesucht hat – nur sich selbst und ihren inneren Zielen verpflichtet«. So Ursula Welsch und Dorothee Pfeiffer in ihrer jüngst erschienenen Bildbiographie über Lou Salomé, die eine gehaltvolle Ergänzung zu der Salomé-Biographie darstellt, die Ursula Welsch und Michaela Wiesner-Bangard 1988 (zweite Auflage 1990) veröffentlichten.
Der Wille zur Selbstverwirklichung, der Lou Salomé in einer patriarchalischen Gesellschaft konsequent ihren Weg als emanzipierte Intellektuelle gehen ließ, ist das eine Phänomen. Daß ihre Freundschaften zu Jahrhundertgeistern sie inspirierten, das andere: Nietzsche, Rilke und Freud. Den drei Weggefährten hat sie Studien gewidmet, die durch ihre analytische Schärfe beeindrucken: Ihr Buch Friedrich Nietzsche in seinen Werken (1894) ist – auch aus dem Abstand von über einem Jahrhundert – eine zeitlos-aktuelle Studie zur geistigen Biographie des Denkers. Ebenso lesenswert ist ihr schlicht Rainer Maria Rilke betiteltes Buch, das 1928 erschien. Und eine explizite Verneigung vor ihrem Lehrer ist der offene Brief Mein Dank an Sigmund Freud, den sie 1931 anläßlich seines 75. Geburtstages veröffentlichte. Erhellend auch ihre frühe Arbeit über Henrik Ibsens Frauen-Gestalten (1892), die im Eugen-Diederichs-Verlag Jena stolze drei Auflagen erlebte.
Diese Schriften überstrahlen die Dichtungen, die Lou Salomé hinterlassen hat und die jetzt sukzessive wiederentdeckt werden, bei weitem. In Verbindung mit einem Nachwort des Herausgebers Hans-Rüdiger Schwab hat der Deutsche Taschenbuch Verlag jüngst Salomés Roman Im Kampf um Gott von 1885 neu veröffentlicht. Die frühe Lebensgeschichte des Ich-Erzählers namens Kuno läßt in großen Zügen Parallelen zur Jugendbiographie Nietzsches erkennen – und, wie nach Konsultation der Bildbiographie zu sagen ist, auch zum Leben Lou Salomés. Die Lösung vom protestantischen Glauben vollzog sich für beide bereits in jungen Jahren: Während dieser Prozeß beim Schüler Nietzsche ohne erkennbare Zäsuren vor sich ging, brach die junge Lou mit der Tradition, in dem sie sich der Konfirmation verweigerte. Die holte sie jedoch nach, weil die Erteilung eines Reisepasses durch die russischen Behörden davon abhängig war.
Wie Nietzsche und Salomé, so wird auch Lous Romanfigur Kuno als Jugendlicher von Glaubenszweifeln geplagt. Um so mehr, da der übermächtige Vater es gern sähe, wenn sein ältester Sohn ebenfalls Pfarrer werden würde. Doch die Erschütterung des Heranwachsenden, der mit den Kinderschuhen auch den Glauben der Väter abstreift, ist zu gewaltig. Kuno wählt eine akademische Laufbahn, derweil sein jüngerer Bruder Rudolf ein dem Vater auf dem Sterbebett gegebenes Versprechen einlöst und Theologe wird, ohne diesen Beruf jemals als Berufung verstehen zu können. Ein Aspekt des Romans lautet also: Wie hältst Du’s mit der Religion? Ein Umschlag in der Handlung erfolgt in der zweiten Hälfte. Nachdem Kuno vom Tod seiner Jugendfreundin Jane erfahren hat, entsagt er der universitären Welt und zieht sich in ein Bergdorf zurück, um fortan als Vater und Erzieher von Janes Kind Maria zu wirken, das er nur »Märchen« ruft: »Märchen sollst du heißen, meines kampfesmüden Lebens Märchen sollst du sein.« Spätestens hier beginnt die Geschichte auf der Stelle zu treten. Eine zweite zentrale Aussage in Im Kampf um Gott kann lauten: Wo Gott war, soll Liebe sein.
Auffällig ist, daß Lou Salomé in dem Roman die männlichen Figuren ein konventionelles Bild von der Bestimmung der Frau verkünden läßt, das die Autorin selbst längst überwunden hatte. Welsch und Pfeiffer versuchen in der Bildbiographie die Diskrepanz zwischen dem in Lou Salomés Prosa gezeichneten Frauenbild und ihrem eigenen, so selbstbestimmten Leben zu erklären: »Im Gegensatz zu vielen ihrer Schriftstellerkolleginnen benutzte sie ihre Erzählungen allerdings nicht, um gesellschaftspolitische Ideen zu transportieren. Lou war vielmehr allein am inneren Erleben ihrer Heldinnen interessiert, dem die äußeren Umstände nur Staffage sind.« Man wird ferner Erwin Rohde beipflichten, der in einem Brief an Franz Overbeck 1891 Lou Salomés Roman »Leiblosigkeit und gespensterhafte Geistigkeit« attestierte. Auch der pathetische Ton erschwert die Lektüre. Mag Hans-Rüdiger Schwab auch beteuern, daß sich die Neu-Edition der Dichtungen Salomés lohne, so sei hier betont, daß vor allem ihre kulturwissenschaftliche Prosa von bleibender Bedeutung ist.

Lou Andreas-Salomé: Im Kampf um Gott. Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans-Rüdiger Schwab, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006, 254 Seiten, 11,50 Euro; Ursula Welsch, Dorothee Pfeiffer: Lou Andreas-Salomé. Eine Bildbiographie, Reclam Verlag Leipzig 2006, 200 Seiten, 19,90 Euro