Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 29. Oktober 2007, Heft 22

Chávez ist nicht Lenin

von Erhard Crome

Wir sind im neunzigsten Jahr nach der russischen Oktoberrevolution, doch die Blicke der Linken sind nicht auf Rußland gerichtet, sondern auf Lateinamerika. Das Scheitern will nicht beflügeln, aber der erwartete Aufschwung »der Revolution« soll es. Wird damit den Linken in Lateinamerika ein Gefallen getan, oder werden nur die Hoffnungen der Linken des Westens wieder einmal auf eine andere Weltgegend projiziert, weil sie mutmaßen, im »eigenen« Lande nichts Rechtes (beziehungsweise Linkes) bewerkstelligen zu können? Diese Frage ist offen.
Viele der lateinamerikanischen Länder werden heute von linken Präsidenten regiert. Sie sind mehrheitlich mit Kuba solidarisch verbunden und sehen das Kuba Castros als eine wichtige Bastion lateinamerikanischer Unabhängigkeit gegenüber den USA an, auch wenn sie ihre inneren politischen Verhältnisse nicht nach dessen Vorbild verändern wollen. Die Tatsache, daß es sich um linke Regierungen in den meisten und wichtigsten Ländern Südamerikas handelt, führt dazu, daß sich diese gegenseitig stützen und politische Gemeinsamkeiten schaffen, die durchaus den Interessen der USA entgegengesetzt sind. Dazu gehört jüngst die Gründung einer »Bank des Südens«, die als Entwicklungsbank eine zentrale Rolle im Rahmen einer neuen regionalen Finanzarchitektur spielen soll. An der Gründung sind Brasilien, Argentinien, Bolivien, Ecuador, Paraguay (das keine linke Regierung hat, aber seine nationalen Interessen offenbar in dem Projekt wiederfindet), Uruguay und Venezuela beteiligt.
Diese linken Regierungen sind demokratisch gewählt. Ihre Mehrheiten in der Wählerschaft entstanden, weil sich ein relevanter Teil der Mittelschichten von den neoliberalen Konzepten abgekehrt und eine »Mitte-Links-Wende« vollzogen hat. Dies wird von vielen Beobachtern als der entscheidende Faktor der Veränderung der politischen Landschaft in Lateinamerika angesehen; doch weder die Schwächung des herrschenden Teils der Bourgeoisie noch Meinungswechsel in den Unterschichten können dieses veränderte Wählerverhalten hinreichend erklären. Das bedeutet, daß »Mitte-Links-Regierungen« in der politischen Zuordnung links sind, im Unterschied zu rechten oder »Mitte-Rechts-Regierungen«, aber nicht notwendig »sozialistisch«. In Brasilien ist Lula faktisch ein Bündnis mit der nationalen Bourgeoisie eingegangen, die wiederum in seiner Politik ihre internationalen Wirtschaftsinteressen gut vertreten sieht. In Argentinien hat Präsident Kirchner deutlich gemacht, daß eigentlich eine stärkere nationale Bourgeoisie Moment nationaler Unabhängigkeit sein müßte. Inwieweit die derzeitigen Wählermehrheiten längerfristig tragen und politisch belastbar sind, muß die Zukunft zeigen.
In Venezuela ist – im Unterschied zu den meisten anderen links regierten Ländern, außer Bolivien und Ecuador, die jedoch noch am Beginn der inneren Auseinandersetzungen stehen – ein politischer Prozeß abgelaufen, der von seiten Chávez’ um so entschiedener vorangetrieben und zugespitzt wurde, je härter die politische Auseinandersetzung mit der alten Oligarchie und ihren Positionen in der venezolanischen Ölindustrie verlief. Und er konnte dank der Unterstützung der Massen die Oberhand behalten: »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« wurde verkündet. Hier haben wir es mit einer sich im Prozeß selbst verstärkenden Tendenz zu wachsender Radikalität zu tun, die für viele Revolutionen in der Geschichte typisch war, nicht zuletzt für die russische Oktoberrevolution 1917. Die Subjekte wie die Programmatik der Veränderung entstehen im Veränderungsprozeß selbst.
Geopolitisch hat Lateinamerika heute eine Selbständigkeit erreicht, wie wohl lange nicht in der Geschichte. Während die USA sich in ungewinnbare Kriege im Nahen und Mittleren Osten verstrickt haben, aus denen sie kaum ungeschoren wieder herauskommen, ist ihnen der historische »Hinterhof« außer Kontrolle geraten. Es wird ihnen schwerfallen, diese zurückzugewinnen, ohne erneut Zuflucht in Militärdiktaturen, Abschaffung demokratischer Freiheits- und Partizipationsrechte, systematischer Verletzung der Menschenrechte, Mord und Folter zu suchen. Manches in dieser Richtung ist bereits zu sehen: die systematische Kriegführung der Regierung und der Oligarchie in Kolumbien gegen Teile der eigenen Bevölkerung mit Unterstützung der USA, die beginnenden Destabilisierungsversuche in Bolivien und Ecuador unter Nutzung der alten Oligarchie, die ihre Privilegien nicht an die »Indios« abtreten wollen, die Errichtung von immer neuen Militärstützpunkten der USA und ihrer Institutionen in weiten Teilen Lateinamerikas. Insofern ist aus heutiger Sicht noch nicht klar, ob die jüngsten Entwicklungen in Lateinamerika weiter im wesentlichen friedlich verlaufen oder aber einer neuen Phase breiterer, offener Gewalt entgegenstreben, die von den USA initiiert und verstärkt wird.
Bei der westlichen Linken gibt es derzeit ein Problem der Wahrnehmung. Die Entwicklungen in Lateinamerika werden überhöht und zur neuen Schicksalsfrage erklärt. Aus der Geschichte der internationalen Arbeiter- und kommunistischen Bewegung in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts kennen wir das Phänomen, daß alle gesellschaftspolitischen Wünsche und Hoffnungen auf eine Welt jenseits des real existierenden Kapitalismus, die auch aus den eigenen Niederlagen, etwa in Deutschland oder Ungarn resultierten, auf die Sowjetunion projiziert wurden. Bei manchen Sichten linker Betrachter Lateinamerikas aus Europa scheint heute etwas ähnliches zu walten. Die »gefühlte« eigene Schwäche, diesem neoliberalen Kapitalismus von heute eine reale Alternative im eigenen Land entgegenzusetzen, wird in eine Euphorie für die Vorgänge in Lateinamerika verwandelt. Und Chávez wird zum neuen Idol gemacht. Damit tut man den politischen und sozialen Prozessen dort jedoch keinen Gefallen.
Andere, die sich auch als »links« bezeichnen, folgen einer innenpolitischen Opportunität dem politischen Mainstream gegenüber und denunzieren Chávez wie Castro, ohne die historischen Bedingungen und Konstellationen wirklich in den Blick zu nehmen.
Die politischen Kräfte, die die Kämpfe in Lateinamerika von seiten der Linken heute auskämpfen, brauchen eine kritische Solidarität der Linken aus Europa und anderen Weltteilen. Die solidarische Kritik ist nur ein Teil dessen. Schaden richten dagegen sowohl Kritik ohne Solidarität als auch unbedarfte Identifikation (hier will ich das Wort Solidarität nicht verwenden) an.
Ihre Hausaufgaben muß die Linke Europas schon bei sich zu Hause machen. Im übrigen lag die Vorstellung, daß die »Weltrevolution« am Ende in einem Lande stattfindet, das sozusagen »halb« entwickelt war und deshalb besonders gut zum »Sozialismus« komme, bereits der Autosuggestion von Lenin und Stalin zugrunde, nach dem Scheitern der Revolution in Deutschland die »neue Welt« nunmehr in der Sowjetunion errichten zu können. Diese Vorstellung brach sich immer an der Wirklichkeit des kapitalistischen Weltsystems. Auch sie ist mit dem Ende des Realsozialismus in Europa 1989/90 untergegangen. Sie wird mit den neuen Entwicklungen in Lateinamerika nicht auferstehen, erst recht nicht angesichts der heute ungleich ausgeprägteren Globalisierung. Die Veränderung der Welt geht am Ende nur durch die Veränderung der ganzen Welt. Diese wiederum ist ein Weltsystem, in dem die verschiedenen Teile, Zentren und Peripherien, ihren je verschiedenen Platz haben. Und jeder trägt an seinem Ort zu diesem Wandel bei. Lateinamerika zeigt: Sozialismus ist möglich, kann wieder möglich werden. Aber unseren eigenen, demokratischen Sozialismus müssen wir schon selber machen. Und das ist dann auch gut für die Entwicklungen in Lateinamerika.