von Henryk Goldberg
Neulich auf Recherche. Ich rufe in der Oper Erfurt an, vielleicht, daß mir jemand was verrät. Oper Erfurt, Rudert, meldet sich der Mann am zentralen Telefon. Thüringer Allgemeine, Goldberg, antworte ich geistesgegenwärtig. Und dann fragt er mich, ob wir uns kennen würden. Axel? schwant mir dunkel, wir waren zusammen in der Schule.
Die Welt, wie man so sagt, ist ein Dorf, und die Stadt ist, besten Falles, der Anger davon, und in Erfurt ganz besonders. Wenn ich wissen will, wo ich zu Hause bin, dann gehe ich über den Anger, zwei mal rauf und runter. Nicht, daß ich da lauter Freunde träfe, ich habe nur einen, und der wohnt auswärts, aber lauter Leute, die ich kenne, irgendwie, flüchtig. Aus der Schule, aus der Lehre, vom Theater, von der Zeitung, von lange zurückliegenden sportlichen Aktivitäten. Den Erfurter Buchhändler, der immer freundlich grüßte, fragte ich einmal, woher er mich kenne. Na, vom Theater doch sagte er. Stimmt schon, nur, daß das da zwanzig Jahre her war.
Das, auch das, ist Heimat: der Ort, an dem man gekannt wird, als Person, von wem auch immer, warum auch immer.
Das fiel mir ein, als ich kürzlich ein auf meine Bitte hin verfaßtes Papier unterschrieb, daß das Ende meiner Berufstätigkeit in einigen Jahren mit einem konkreten Datum versieht. Und die Frage aufwirft, was dann, versehen mit viel Zeit und einem auskömmlichen Einkommen, zu tun sei? Die Welt sehen, herumziehen, aber nicht: umziehen. Für Wochen, der Frühling in Südfrankreich, der Herbst in Ontario. Aber nicht auf Dauer. Denn dort finden sich keine Erinnerungen, die weit zurückreichen, bis in die Zeit etwa, als ich mit einem Jungen, der Axel hieß, die Schule in der Rosa-Luxemburg-Straße täglich seufzend über mich ergehen ließ. Heimat ist auch da, wo mich die Nachricht aus der Theaterzeitung, die einstige Erfurter Sängerin Marga Zorn sei gestorben, noch betrifft, obgleich ich die Frau seit mindestens dreißig Jahren nicht mehr gesehen habe. Marga Zorn war die Diva der Erfurter Operette und hätte, wäre sie zehn Jahre jünger gewesen, in der DDR wohl ein richtiger Star des Musicals werden können, das kam für sie leider zu spät, da war sie schon die komische Alte. Die Nachricht über den Tod der, sozusagen, Marga Zorn von Dresden oder Düsseldorf hätte mich kaum bewegt.
Heimat ist auch dort, wo sich einer erinnern kann, wie Joachim Franke – Mann, Bühnenpartner und später auch Regisseur von Marga Zorn – mit weißem Anzug und roter Rose die Revuetreppe hinabtänzelte, eine glänzende Erscheinung und eine nicht ganz so glänzende Stimme. Heimat ist, wo einer noch weiß, wie Hanns-Michael Schmidt als Posa aussah und Detlef Heintze als Carlos; wenn einer sich erinnert, wie er Karl-Heinz Dolge dreißig Jahre lang die gleichen Späße treiben sah und wie sein Publikum sich dreißig Jahre lang amüsierte so laut als wie am ersten Tag.
Ein bißchen Heimat weht auch dann, wenn sich der Ton erinnern läßt, und das Gesicht, mit denen Fred Diesko den Weimarern jenen Mephisto schenkte, der wohl am besten zu ihnen paßt. Auch die Erinnerung an die große Schauspielerin Christa Lehmann und ihre wunderbare Celestina ist ein Stückchen Heimat. So sind, neben Ecken und Plätzen, neben Schulfreunden und alten Lehrern auch Theater Erinnerungsorte. Erinnerungsorte einer Stadt, deren Geschichte sich dort eingeschrieben hat wie Jahresringe in einem Baum. Bäume, die von der Thüringer Landesregierung nun gefällt werden. Von Leuten, die keinen Begriff davon haben, daß ein tingelndes Tourneetheater etwas anderes als ein stehendes Ensemble ist.
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