von Frank Ufen
Nichts ist nützlicher als ein großes Gehirn. Doch die Natur scheint das bis heute nicht begriffen zu haben und bringt unablässig Lebewesen hervor, die sich mit winzigen Denkapparaten begnügen müssen. Schlimmer noch: Gelegentlich bringt es die Natur sogar fertig, Gehirne kurzerhand wieder zu verkleinern.
Kürzlich haben die Zürcher Biologen Kamran Safi, Marc Seid und Dina Dechmann die Gehirngrößen, Körperformen sowie Jagd- und Ernährungsstrategien von 104 Fledermaus-Arten untersucht. Dabei kam ein erstaunlicher Zusammenhang zutage. Diejenigen Fledermäuse, die sich auf die Insektenjagd in offenen Lufträumen verlegt haben, sind mit kleinen und schmalen Flügeln ausgerüstet. Damit können sie zwar überaus schnell fliegen, aber nicht besonders gut manövrieren. Diese Fledermäuse leben in einer übersichtlichen Umwelt, die das Gehirn nicht übermäßig beansprucht. Also haben sie sich beizeiten ein kleineres zugelegt, das erheblich weniger Energie frißt. Genau entgegengesetzt ist die Evolutionsgeschichte derjenigen Fledermäuse verlaufen, die im Wald ihre ökologische Nische fanden und eine Vorliebe für pflanzliche Nahrung entwickelten. Sie sind mit großen und breiten Flügeln ausgestattet, die es ihnen ermöglichen, äußerst geschickt zu manövrieren und blitzschnell jedem Hindernis auszuweichen. Solche Kunststücke erfordern ein Gehirn mit beträchtlicher Rechenleistung.
Das menschliche Gehirn ist ein merkwürdiges Ding. Es ist übermäßig groß und komplex, ziemlich störungsanfällig, es frißt jede Menge Energie und ist eine Maschine mit nahezu unbegrenzten Einsatzmöglichkeiten. Warum das so ist, wird üblicherweise damit erklärt, daß die frühen Hominiden in einer Umwelt lebten, die an ihr Denkvermögen erhöhte Anforderungen stellte: Weil sie sich darauf verlegt hatten, systematisch Werkzeuge und Waffen herzustellen, und weil sie darauf angewiesen waren, ihr Handeln gemeinsam zu planen und aufeinander abzustimmen, benötigten sie angeblich reichlich technische und soziale Intelligenz – und die Evolution lieferte ihnen prompt ein Gehirn mit der entsprechenden Rechenleistung. Nach anderen Theorien waren es vor allem die zunehmende Komplexität des gesellschaftlichen Lebens und die dafür erforderlichen Fähigkeiten zur Verständigung, Perspektivenübernahme, Interaktion und Kooperation, die die Evolution des Gehirns vorangetrieben haben. Wieder andere Theorien betrachten das Gehirn als das Ergebnis eines geistigen Wettrüstens, eines Hobbesschen Kampfes aller gegen alle, bei dem jeder versucht habe, seine Gegenspieler strategisch zu manipulieren, zu täuschen und zu betrügen.
Alles Theorien, die an Lamarcks Abstammungslehre erinnern, nach der Entwicklung durch Veränderungen in der Umwelt erzwungen wird. In den Augen des Bremer Gehirnforschers Gerhard Roth wird dabei etwas Wesentliches ausgeblendet: »Die großen Schübe in der Menschheitsentwicklung wurden ohne großes Gehirn gemacht, und der eigentliche große Sprung zum modernen Menschen ist ohne Gehirnvergrößerung geschaffen worden.« Ob die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Gehirns, die Sprache der Neuronen, das Verhältnis der Rationalität zur Emotionalität, die Willensfreiheit oder die Intelligenz der Roboter – all das und noch viel mehr wird hier in einem Dutzend Radio-Features abgehandelt. Eine exzellente, keinerlei Vorkenntnisse voraussetzende Einführung in den aktuellen Stand der Hirnforschung.
Irene Klünder, Frank Schüre, Uwe Springfeld, Gábor Paál, Claudia Wassmann, Eva Schindele: Wunderwerk Gehirn. Die Welt der kleinen grauen Zellen, 6 CDs, Quartino-Verlag München 2007, 330 Minuten, 19,95 Euro
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