Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 20. August 2007, Heft 17

Wenn einer eine Ostreise tut …

von Kai Agthe

Wenn ein Staatsmann ein Nachbarland privat bereisen möchte, dann sorgt dieses Ansinnen bei den Sicherheitsorganen zwangsläufig für erhebliche Aufregung. Da ist es gleich, ob es sich um Demokratien oder Diktaturen handelt.
Nicht auszudenken, wenn dem Gast, der mehr oder minder inkognito unterwegs ist, etwas zustößt. Erfüllt von der Freude, 1987 zu einem offiziellen Besuch in der BRD weilen zu können, entsprach Erich Honecker dem Wunsch seines Gastgebers Helmut Kohl und erlaubte ihm, als Privatperson in die DDR zu reisen. Der Staatsratsvorsitzende hatte zu diesem Zeitpunkt gewiß nicht bedacht, daß dieses Zugeständnis mehrere Hundertschaften von Stasi und Volkspolizei auf Trab halten würde. Aus Angst vor »Demonstrativhandlungen« – so der Terminus technicus des MfS für Sympathiebekundungen und andere nicht vorhersehbare Aktionen der DDR-Bevölkerung – wurden im Vorfeld des Kohl-Besuchs alle Hebel der Überwachung in Gang gesetzt. Man wollte dem Kanzler das Gefühl geben, nicht beobachtet zu werden, obwohl er rund um die Uhr observiert wurde.
Da das MfS nur die beiden Reiseziele Weimar und Dresden kannte – das Kanzleramt hatte hier Hotelzimmer gebucht –, war die Nervosität bei Partei und Behörden entsprechend groß, als Kohl im Mai 1988 mit Frau Hannelore, Sohn Peter, Regierungssprecher Friedhelm Ost und weiterem Personal über den Grenzkontrollpunkt Herleshausen-Wartha in die DDR einreiste. Welche Routen würden sie wählen, in welchen Städten Station machen, welche Sehenswürdigkeiten ansehen und wo einkehren? Um auf Nummer sicher zu gehen, waren der DDR-Geheimdienst und die Polizei in den ehemaligen Bezirken Erfurt, Dresden und Gera omnipräsent. Um zu zeigen, daß man die Situation im Griff habe, schickten die Bezirksfürsten von MfS und SED jeden Abend Telegramme an Mielke und Honecker. Die darin gebetsmühlenhaft wiederholte Floskel, wonach die DDR-Menschen den Kanzler der Bundesrepublik nicht beachten würden, war eine Lüge, erfunden, um nicht den Zorn der Allgewaltigen in Ost-Berlin auf sich zu ziehen. Honecker soll diese Mär wirklich geglaubt haben.
Die beiden Autoren, die Kohl auch für ein Vorwort gewannen, rekonstruieren dessen Tage vom 27. bis 29. Mai 1988 minutiös. Da die Stasi-Unterlagen erhalten geblieben sind, fiel ihnen das nicht schwer. Die Ausführungen über den bis dato kaum bekannten privaten DDR-Aufenthalt des damaligen Kanzlers sind überaus spannend zu lesen. Und das nicht etwa allein nur wegen der zahlreichen Pannen, die den Tschekisten unterliefen: In Gotha, Kohls erster Station, fanden die MfS-Leute die beiden Mercedes-PKW nicht mehr, weil ihnen die Nummernschilder nicht bekannt waren. Und in Erfurt konnte der Kanzler ein spontanes Gespräch mit den Studenten des katholischen Priesterseminars führen, das unprotokolliert blieb, da das MfS außen vor blieb – und kein Zuträger unter den Studiosi war, der nachträglich hätte berichten können. Wiewohl permanent von Geheimdienstlern umgeben, die mit der Familie Kohl auch in der Dresdner Semper-Oper und im Stadion von Dynamo saßen, gelang DDR-Bürgern immer wieder die Kontaktaufnahme. Mehrere Dutzend Ausreisewillige konnten dem Kanzler Briefe und Zettel mit ihrem Begehr zureichen.
Das Beispiel von Kohls privater DDR-Reise zeigt, daß der Aufwand, den das MfS betrieb, auch hier letztlich in keinem Verhältnis zu seinem Nutzen stand. Der Bundeskanzler konnte sich so oder so ein ungeschminktes Bild vom DDR-Alltag machen. Und das, obwohl Honecker die Lebensmittelgeschäfte in Weimar für die Dauer von Kohls Aufenthalt großzügig mit Rarissima wie Gurken und Tomaten, Spargel und Bananen bestücken ließ …

Jan Schönfelder, Rainer Erices: Westbesuch. Die geheime DDR-Reise von Helmut Kohl, Verlag Dr. Bussert & Stadeler Jena 2007, 111 Seiten, 14,90 Euro