Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 20. August 2007, Heft 17

Die DDR-Universität Jena

von Mario Keßler

Hoffnungen, Enttäuschungen, neue Erfahrungen« – unter diesem Signum veranstaltete die Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen in Jena eine Tagung über die Universität Jena 1989-90 und schloß mit ihr eine Veranstaltungsreihe ab, die sich mit der Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität in der SBZ und der DDR befaßte und deren Ergebnisse nun in drei gehaltvollen und vor allem preiswerten Bänden vorliegen.
Gewalten, Gestalten, Erinnerungen, 2002 erschienen, enthält Beiträge zur Geschichte der Universität in den ersten Nachkriegsjahren. Neben Abhandlungen zur Hochschulpolitik seien biographische Untersuchungen zu wichtigen Jenaer Wissenschaftlern dieser Zeit erwähnt: zu den Philosophen Max Bense und Georg Klaus in einem interessanten Doppelporträt (Michael Eckardt), zum Chemiker Franz Hein (Adalbert Feltz), dem Pädagogen Peter Petersen (Paul Mitzenheim), dem Veterinärmediziner Fritz Hoffmann (Hans-Joachim Schwark) oder dem Historiker Hugo Preller, den Manfred Weißbecker besonders plastisch porträtiert.
Der anschließende, 2004 publizierte Band vereint unter dem Titel Alma mater und moderne Gesellschaft insbesondere Studien zur Sozialgeschichte des DDR-Hochschulwesens. Hier sei der Beitrag Gregor Schirmers zur 3. Hochschulreform hervorgehoben, der Soll und Haben dieses Transformationsprozesses klug gegeneinander abwägt. Michael Wegner spürt den allmählich sachlicheren Urteilen zur DDR-Wissenschaft in der Historiographie nach. Ludwig Elm untersucht das internationale Echo auf die 400-Jahrfeier der Jenaer Universität 1958, die zwar in der Bundesrepublik publizistisch heruntergebucht, aber in West und Ost ganz allgemein beachtet wurde, vor allem, weil sich Jena als eine der ersten deutschen Universitäten deutlich der eigenen Vergangenheit unter dem deutschen Faschismus gestellt hatte.
Gemeinschaftlich bewegte Wissenschaft, soeben erschienen, behandelt Erfahrungen gesellschaftswissenschaftlicher Forschung in Jena aus den 1970er und 1980er Jahren. Fallstudien zu einzelnen Disziplinen bieten Friedrich Tomberg für die Philosophie, Gerhard Haney für die Rechtswissenschaft, Helmut Metzler für die Psychologie und Wolfgang Höwing zu philosophischen Fragen der Naturwissenschaften. Hinzu kommen Beiträge von Michael Wegner zur Bachtin-Konferenz 1983, die dem innovativen sowjetischen Literatursoziologen auch im eigenen Land mit zur Anerkennung verhalf, von Michael Eckardt zur Friedensforschung, von Jens-Fietje Dwars zum Peter-Weiss-Arbeitskreis sowie von Ludwig Elm zu den Universitätsjubiläen 1983 (425. Gründungstag) und 1985 (40. Jahrestag der Neueröffnung). Zu kurz kommt leider die Unterdrückung nichtkonformer Meinungen, die auch Exmatrikulationen von Studenten zur Folge hatte.
Die diesjährige Veranstaltung läßt auf eine Publikation hoffen, die die kontroverse Diskussion widerspiegeln sollte. Das westdeutsche Establishment habe 1990 eine 4., ihren Namen verdienende Hochschulreform vereitelt, erklärte Stefan Bollinger im Eröffnungsbeitrag. Diese bewußte Zuspitzung stieß auf Widerspruch im Raum. Die DDR-Wissenschaftler hätten rechtzeitig von kritisch eingestellten westdeutschen Kollegen lernen sollen, hielt Jens-Fietje Dwars entgegen. Er nannte den verstorbenen Dieter Strützel als einen von nur wenigen Jenaer Hochschullehrern, die sich um eine solche Rezeption bemüht hätten, so im 1987 gemeinsam mit Tübinger Forschern über die Grenzen hinweg initiierten Projekt über Lebensweisen in Ost und West.
Der daran beteiligte Mathias Mieth sagte selbstkritisch, man habe im Februar 1989 abstrakt über Reformen im Sozialismus diskutiert, aber nicht wahrhaben wollen, daß der letzte Erschossene an der Berliner Mauer, der zwanzigjährige Chris Gueffroy, drastischer als alle Durchhaltepropaganda in den DDR-Medien die Unfähigkeit des Systems bewies, auf seinen eigenen Grundlagen eine humane Ordnung aufzubauen. Für solche Reformversuche stand der im September 1989 gebildete Studentenrat der Universität, der bis heute besteht, während laut Ludwig Elm die konservative Aktionsgemeinschaft demokratische Erneuerung der Hochschule (ADEH), der vorwiegend Hochschullehrer der Medizin angehörten, weniger Initiator denn Nutznießer der Wandlungen auch an der Jenaer Universität war.
Dieter Kerl belegte mit Zahlen, daß die propagierte »Durchmischung« der DDR-Hochschulen auf eine Verdrängung Ostdeutscher abzielte: Von 1992 bis 1998 ergingen 338 Rufe der Jenaer Universität auf eine Professur, darunter an nur 31 Ostdeutsche (das sind 7,9 Prozent). Die tatsächliche Zahl dürfte noch darunter liegen, da zu den 31 wohl auch Westdeutsche (und sehr wenige Ausländer) gehören, die zuvor an einer anderen Einrichtung in Ostdeutschland arbeiteten. Zudem besetzen Wissenschaftler mit DDR-Biographie kaum Lehrstühle, allenfalls niedriger dotierte Professuren oder sind als außerplanmäßige oder Honorarprofessoren ohne Mitspracherecht in den akademischen Gremien.
Tobias Kaiser bot einen Überblick über die Literatur zum Wandel der ostdeutschen Hochschulen. Die Urteile reichten vom geglückten Demokratisierungsprozeß bis zum Abbruch selbstbestimmter Erneuerung, und beide Positionen können auf plausible Argumente zurückgreifen. Diese Kontroversen seien nicht mit einem Ost-West-Gegensatz identisch. Die Westdeutschen, deren Urteile über die DDR weit auseinander gingen, trafen auf Ostdeutsche, die die DDR sehr verschieden erlebt hatten. Wem die SED nach 1945 den sozialen Aufstieg eröffnete, konnte und mußte 1990 eine andere Bilanz ziehen als der, dem die DDR aus ideologischen Gründen Bildungschancen verwehrt hatte.
Manfred Weißbecker, 1992 – dies darf gesagt werden – zu Unrecht aus seinem Amt als Hochschullehrer entlassen, zog eine bemerkenswert sachliche Bilanz. Er zitierte Jürgen Mittelstraß, der 2002 gefordert hatte, das aus allzu pauschalen »Abwicklungen« entstandene Unrecht an DDR-Forschern zumindest teilweise zu revidieren. »Laßt uns noch einmal über die Bücher gehen«, hatte der Konstanzer Philosoph angemahnt. Sollte die Jenaer Universität sich beim anstehenden Jubiläum im Jahre 2008 dieser Mahnung, und sei es nur symbolisch, erinnern, dann, so Weißbecker, würden er und seine Mitstreiter dies nicht überhören.

Gewalten, Gestalten, Erinnerungen. Beiträge zur Geschichte der FSU Jena in den ersten Jahren nach 1945, Thüringer Forum für Bildung und Wissenschaft, Jena 2002, 264 S.;
Alma mater und moderne Gesellschaft. Hochschulpolitische Reformansätze in jüngerer und jüngster Zeit unter besonderer Berücksichtigung von Jenaer Erfahrungen aus den 50er bis 70er Jahren, Thüringer Forum für Bildung und Wissenschaft, Jena 2004, 159 S.;
Gemeinschaftlich bewegte Wissenschaft. Resultate und Erfahrungen gesellschaftswissenschaftlicher Forschung in den 1970er und 1980er Jahren an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena 2007, 146 S.,

Die Bände sind für je 5 Euro zu beziehen bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen e. V., Käthe-Kollwitz-Str. 6, 07743 Jena.