von Jens Knorr
Der Premierenabend wurde zum Triumph des scheidenden Generalmusikdirektors der Komischen Oper Berlin, des Orchestererziehers Kirill Petrenko. Unter seiner Leitung exekutieren die Musiker mit ihrem unverkennbaren trockenen, berlinernden Orchesterklang Lehárs Musik nicht etwa, wie wir sie uns wünschen, sauciger Sound und schmierfettige Übergänge, sondern wie sie geschrieben steht, unvermittelt nebeneinanderstehende Blöcke und Nummern, k. u. k. chinesische Ballett-Suite, brutaler Hochzeitsmarsch, zärtliches Violinsolo über Trommelwirbeln – in nur schwer erträglicher Vollständigkeit. Paul Dessau, der Dirigent des Tauber-Films von 1930, hätte seine Freude gehabt.
Es sind nicht eigentlich musikalische Brüche, vor deren Abgründen Lehár etwa nicht weiterwüßte; Lehár weiß gar nicht, daß er nicht weiterweiß. Er läßt sein musikalisches Material halb oder gänzlich unbearbeitet liegen und nimmt anderes her. An diesen Brüchen greift Regisseur Peter Konwitschny an und ein, reißt Fermaten zu schwarzen Löchern auf und wertet sie szenisch, stößt das Spiel in die Gegenrichtung, damit es überhaupt weitergehen kann, Lehárs Spiel, sein Spiel.
Die Gräfin Lisa Lichtenfels (Tatjana Gazdik) folgt dem chinesischen Prinzen Sou-Chong (Stephan Rügamer) nach Peking, als er zum Ministerpräsidenten Chinas ernannt wird. Der Dragonerleutnant Graf Gustav von Pottenstein, »Gustl« (Tom Erik Lie), folgt der geliebten Lisa und verliebt sich in deren Schwägerin Mi (Karen Rettinghaus). Konfuzianische Tradition fordert die Ehe mit vier chinesischen Frauen, eine Formalität für Sou-Chong, für Lisa der Anlaß zum Bruch. Sou-Chong gibt Lisa frei, Gustav wird sie zurück nach Wien begleiten – bei Léhar und seinen Librettisten Herzer und Löhner. Sou-Chong läßt Lisa und Gustav die Kehle durchschneiden – bei Konwitschny. Denn wie’s in China drin aussieht, geht niemanden etwas an.
Als einer der Regisseure von Bedeutung, den die DDR hervorgebracht und ausgehalten hat, ist Peter Konwitschny ihr immer verhaftet geblieben, der Einbruchs- und Ausbruchsexotismus von Lehárs Romantischer Operette könnte sein Thema sein. Die Welt, in die der exotische Prinz hereinbricht, sein wahres Gesicht unter der Maske des Operettenchinesen bergend, ist die Welt des sogenannten Heiteren Musiktheaters, das in Berlin bis in die neunziger Jahre auch im Haus in der Behrenstraße beheimatet war, und Konwitschnys Spiel dem augenzwinkernden Umgang mit Operettenklischees zum Verwechseln ähnlich, dessen kritische Aufhebung es für sich reklamiert. Die Suche nach dem Echten hinter dem Klischee, dem wahren Menschen hinter der Maske, dem Sängerdarsteller hinter der Rolle überführt sich im Leben und auf der Bühne selber des Unechten. Als auf der Klimax des ersten Finales Lisa Sou-Chong und Sou Chong Lisa die Perücke vom Kopf reißt, die letzte Maske fällt, liegt nicht das wahre Gesicht dahinter, sondern die Maske, wohin der Sänger den Ton plaziert.
Wer die heroische Anstrengung des Suchenden belächelt, das allgemein Menschliche vor dem besonderen Unmenschlichen, die Idee der Menschheit im Bürger, zu retten, und sei es nur auf den Brettern, die die Welt bedeuten, der hat den Suchenden verkannt. Wer in dem Ansinnen des Mannes, seiner Hauptfrau vier Nebenfrauen unterzujubeln, weniger die anderen Sitten anderer Länder als vielmehr die eigenen Unsitten erkannt hat, der wird sich ob der heroischen Anstrengungen des Regisseurs, uns einen stinkbürgerlichen als einen interkulturellen Konflikt unterzujubeln, eines sardonischen Lächelns nicht erwehren können: Wir fremden, weißen Männer, sind gar so übel dran, seit wir unsere Weiber nicht mehr straflos köpfen lassen dürfen.
Den Salon bei Graf Lichtenfels aus Pappe und Prospekten hat Bühnenbildner Jörg Koßdorff mit Rundaufbauten umschließen lassen, die sich zu Außenmauern des Frauenpalastes bei Sou-Chong in Peking zusammenschieben. Lisas Operettenwien stellt das Innere vor, dessen Äußeres Sou-Chongs Peking vorstellt. Sou-Chongs Peking ist das Peking Mao Zedongs, wo blaue Einheitsjacken getragen werden, derweil Sou-Chong an der gelben Jacke schwer zu tragen hat. Es ist das Peking aller Diktatoren, Ministerpräsidenten und alten Adams dieser Welt, die zu Lehárs Chinesischer Ballett-Suite und in der Choreographie Enno Markwarts die Vernichtung der Welt tanzen. Es ist nicht das Peking der Evas und Mis und Lisas, denen weder mein noch dein noch unser ganzes Herz gehört, obwohl es ihnen zu Füßen liegt – ein Ziegelstein, der nur für sie schlägt. Konwitschny implantiert Heiner Müllers »Herzstück« vor das den dritten Akt eröffnende Märchen vom Glück und legt Müllers Sätze den als Emigranten oder Immigranten verkleideten und maskierten Damen Chorsolisten des Hauses in den Mund. Die wissen damit auch nicht mehr anzufangen, als der Regisseur mit ihnen anzufangen weiß.
Arbeiten und nicht verzweifeln? Arbeiten und nicht mit der Verzweiflung kokettieren, der Verzweiflung darüber, daß Männer die Welt bauen und zerstören und damit nie bei sich selbst, sondern immer bei den Frauen anfangen müssen! Wenn doch Konwitschnys Arbeiten wieder so wichtig würden, wie er sich selber nimmt. Der Regisseur läuft Gefahr, am Ende nur noch »Konwitschnyinszenierungen« zu inszenieren, deren Bilder einen Stil reproduzieren, aber keine Inhalte mehr, die Stil hervorbringen, deren vorhersehbare Unvorhersehbarkeiten ihren Marktwert ausmachen. Es soll schon Touristen gegeben haben, die heil aus China zurückgekommen sind.
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