von Julia Michelis
Ich bin lange nicht mehr so glücklich aus dem Theater gekommen wie an diesen beiden Abenden, als das Meininger Schauspiel Faust I und II zeigte.
Es gab keine herausragende Schauspielkunst, ich habe nicht jede Anspielung verstanden, nicht alle Umsetzungen waren originell, ja, ich empfand auch Längen. Dennoch war ich glücklich, denn ich war zwei Abende lang gefesselt von einer großen Ensembleleistung, wie ich sie schon lange nicht mehr erlebt habe – und ich bin mit Hoffnung nach Hause gegangen. Auch fürs Theater, aber mehr noch fürs Leben.
Gott, so ein Pathos. Kann das im 21. Jahrhundert ohne Verlogenheit funktionieren? Ja – mit einem Theater, das sich seinem Autor stellt, statt seinen prophetischen Welt- und Kunstverstand als Materialsammlung zu benutzen. Mit einer Regie (Ansgar Haag), die im Verein mit Dramaturgie (Hans Nadolny, Gerda Binder), Musik (Jan Dvórˇak) und Ausstattung (Bernd Dieter Müller, Annette Zepperitz) das Nationalheiligtum ungerührt von 175 Jahre alten Klischees auf Gegenwartstauglichkeit untersuchte und fündig wurde. Und mit einem Bekenntnis zu Goethes aufklärerischem Impetus. Das wird sinnfällig gemacht, indem der Dichter (Ulrich Kunze) nicht nur die »Zueignung« beim Spaziergang über die Bühne entwickelt, sondern sein Werk begleitet. Bis hin zum Ende greift er ein oder gibt Kommentare, so daß selbst das 21. Jahrhundert im letzten Akt von Faust II mit der Goethischen Humanitas konfrontiert wird.
Sein erster Eingriff findet statt, wenn Faust (Hans-Joachim Rodewald) in seiner Verzweiflung an der Welt Bücher zu verbrennen beginnt. Hier kommen böse Assoziationen hoch, doch an dieser Stelle hat die Meininger Fassung (Haag, Nadolny) nicht umsonst die Wette zwischen Gott und Mephisto eingeschaltet – es gibt eine Alternative zum Fatalismus. Faust ergreift seine Chance. Aber er kann nicht neu anfangen. Die Hexenküche hat ihn zwar verjüngt, doch Wissen und Erfahrung bleiben. So gerät er angesichts der Liebe zu Gretchen in Zwiespalt und teilt sich in zwei Figuren, die miteinander ringen. Aber schließlich läßt sich der junge heißblütige Faust (Peer Roggendorf) nicht mehr von den Bedenklichkeiten des reifen Faust daran hindern, seine Liebe zu genießen. Das Unglück ist programmiert, aber bewältigen muß es schließlich der Erfahrene.
Zu erleiden hat es Gretchen, die mit ihrer bedingungslosen Liebe weit aus ihrer Zeit herausfällt, wofür schon ihr Kostüm ein Zeichen ist. Wenn sie Fausts Schmuckkästchen entdeckt, ist sie gerade beim Ausziehen. Halbnackt gibt sie sich selig der Freude an dem Schmuck und dem Gedanken an den Geliebten hin. Dagmar Geppert zeigt sehr anrührend, wie eins ohne das andere für sie nicht denkbar ist. Bis sie ihre Nacktheit entdeckt und erschrocken das Nachthemd anzieht. Die anerzogene Prüderie funktioniert wieder. Noch kann Gretchen den Zwiespalt zwischen gesellschaftlicher Norm und individuellem Gefühl überbrücken. Spätestens, wenn der im Duell mit Faust tödlich verwundete Bruder mit ihr abrechnet und sie in der Dunkelheit gespenstisch bedrängt wird von den sensationslüsternen Mitbürgern, ahnt man – hier gibt es keine Hilfe mehr.
Faust läßt sich derweilen gerne von Mephisto (Roman Weltzien) ablenken. Der ist ein wundersames Geschöpf, nicht Mann mit seiner weiblichen Altstimme, aber auch nicht Frau mit seinem sportlich-jungenhaften Körper: ein Wesen zwischen allen Reichen und jenseits aller Normen – ein Gestalt gewordenes Mysterium.
Als Faust, schließlich doch vom Grauen der Gretchentragödie erreicht, verzweifelt am Boden liegt, ist es wieder am Dichter, seiner Figur aufzuhelfen. Er versetzt sie nach der persönlichen Tragödie in die globalen Zusammenhänge des zweiten Teils. Nun versucht sich Faust in Politik und Wirtschaft und durchlebt die Weltgeschichte von den Mythen der grauen Vorzeit bis zur globalisierten Gegenwart. Aber auch hier endet er im Elend, nur geschützt durch Blindheit und Illusion. Sein Schöpfer gibt ein letztes Beispiel zur Umkehr: Er besucht als junger Wanderer das alte Ehepaar Philemon und Baucis. Man erfährt, was sie ihm einst Gutes taten. Aber auch diese Vorstellung von alternativem Handeln kann nicht verhindern, daß der Kolonisator Faust in seinem brutalen Tatendrang am Tod der beiden Alten schuldig wird. So bleibt Goethe nur noch ein letzter Auftritt, in dem er trotz Niederlage und Versagen des einzelnen der Menschheit weiter eine Chance gibt: Das zum Stammbuchvers verkommenen Zitat »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen« war nie überzeugender als hier.
Wieder aufzustehen und wieder hoffen zu können, das ist ein genauso unveräußerlicher Teil des Menschseins wie die Akzeptanz seiner Geschichte. Solche gedankliche Klarheit stellt sich natürlich erst bei einigem Überlegen ein. Aber es gehört zu den berührenden Momenten dieser Aufführung, daß man ihre Wahrheiten spürt, zum Beispiel beim Auszug der Zuschauer in den schönen Park des Theaters: Man steht im Halbrund um den Teich des Englischen Gartens und erlebt sich plötzlich nicht nur als Teil des heutigen Publikums, sondern angesichts des Stücks Antike, auf dessen riesigen gefallenen Säulen große Teile des zweiten Akts von Faust II spielen, auch als Teil einer Kultur, einer menschlichen Gemeinschaft, die über die Jahrhunderte reicht. Da beginnt die Inszenierung eine Dimension zu entwickeln, die über das Stück Literatur, seine Interpretatoren und die Erfahrungen jedes Einzelnen hinausreicht, hin zu dem Wunderbaren, was dramatische Kunst in ihren besten Momenten sein kann. Kürzer formulierte es ein Zuschauer nach der Vorstellung: »Das war richtiges Theater.«
Wiederaufnahme Faust I und II am 4./5. Oktober 2007 (Telefon 03693-451300), aber Parkversion nur im Sommer! E-Mail: kasse@das-meininger-theater.de
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