Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 23. Juli 2007, Heft 15

Verraten

von Heinz Jakubowski

Man müßte mal ein Buch schreiben, in dem alles drinsteht, oder auch einen Film machen, der alles aussagt! Aber weder das Buch ist bislang geschrieben, noch liegt ein entsprechender Film vor. Und so hat natürlich auch Regisseurin Inga Wolfram mit ihrer TV-Dokumentation Verraten über eine dissidentische DDR-Studentengruppe der siebziger Jahre ihn nicht zu produzieren vermocht. Daß viele Fragen über das »Wie« des wid erständigen Denkens und Handelns der Jungintellektuellen aus der Berliner Humboldt-Universität im Film nicht expliziert werden, mag man bedauern. Aber Inga Wolfram, selbst nicht zur Gruppe gehörig, aber mit ihrem führenden Kopf seinerzeit verheiratet, ging es darum nicht. Sie wollte nachvollziehbar machen, was in DDR-Zeiten geschah, wenn jemand es wagte, den aufrechten Gang eigenständigen Denkens einschlagen zu wollen. Nicht einmal strukturell gegensätzlichen Denkens, denn die meisten der Protagonisten kamen aus politisch etablierten familiären Verhältnissen, waren selbst SED-Mitglieder, und als Marxisten verstanden sich die angehenden Philosophen allemal. Klaus Wolfram, Sebastian Kleinschmidt, Dieter Krause, Jan Lautenbach, Wolfgang Nitsche und Wolfgang Templin wurden von der Stasi unter dem operativen »Vorgangs«-Namen Kreis erfaßt. Was sie wollten, war das Ende der obwaltenden Regierung – nicht zur Beendigung der Sozialismus-Utopie, sondern als Ausgangspunkt ihrer wirklichen Seinswerdung.
Freilich dürften bei aller Intelligenz der Beteiligten auch Naivität und jugendliche Anmaßung im Spiel gewesen sein. Und ganz gewiß auch das – vermutlich unbewußte – Handicap, ausgerechnet als Theoretiker mit einem praktischen Unterfangen solcher Dimension beginnen zu wollen. Das mag heute belächeln, wer will; die sechs Männer sehen ihr seinerzeitiges Potential heute auch anders als damals. Allerdings bereuen sie – anders als der zur Presseaufführung geladene Günter Schabowski, der nach tiefer innerer Ein- und Abkehr keinerlei Projekt des Namens Sozialismus eine andere Perspektive zubilligt als das Scheitern – es nicht, über eine Alternative nachgedacht zu haben, die nicht nur eine zum Realsozialismus jener Jahre hätte sein sollen, sondern auch eine zum Realkapitalismus jener und wohl auch dieser Jahre.
Dem Film Verraten ist da und dort unterstellt worden, in erster Linie eine Abrechnung mit jenem »Verräter« zu sein, der unter der miesen Heuchelei von Freundschaft und Vertrauen alle sechs der Stasi ausgeliefert hat – Arnold Schölzel, der siebte im Bunde. Nun ist dieser Aspekt tatsächlich der dramaturgische Pol, um den sich die filmische Dokumentation dreht. Wenn diese indes eine Abrechung ist, dann allerdings viel weniger mit der Person des ebenso bewußten wie willfährigen Denunzianten als vielmehr mit jener Geistes- und Menschenfeindlichkeit, die unter der Firmierung der Macht des Proletariats und über diese auch der geistigen und kulturellen Befreiung des Menschen deren exaktes Gegenteil betrieb: katholizistische Gläubigkeit an zu Dogmen erhobene Gedanken und machtfixierende Repression gegen alles und jedes, was davon abzuweichen auch nur den Ansatz zeigt. (Ein einstiger FORUM-Chefredakteur, mit Bahro befreundet und natürlich irgendwann geschasst, pflegte, natürlich intern, immer wieder zu sagen, daß die eigentlichen Sozialismusverräter im Zentralkomitee der SED sitzen.)
Sicher – die sechs Mitglieder der Gruppe Kreis sind seinerzeit vergleichsweise glimpflich davongekommnen. Berufsverbote, Relegationen und dauerhafte Observierungen waren ganz gewiß nicht das schlimmste, was einem für solches Tun und Lassen widerfahren konnte. Der oscargekrönte Donnersmarck-Film Das Leben der Anderen hat es hollywood-kompatibler abgelichtet und zusätzlich das hochkompetente Lob unseres Bundespräsidenten bekommen, daß der Film »nicht nur eine sorgfältig recherchierte Geschichte erzählt und schon damit einen Beitrag zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte leistet, sondern auch die passenden Bilder gefunden habe, beklemmend nahe an der damaligen Realität.« Donnersmarck hat in Wirklichkeit der strukturellen Wahrheit seines Films munter hinzugedichtet, was ihm, nun ja, cineastisch attraktiv schien. Inga Wolfram hingegen dokumentiert nüchtern, unaufgeregt und eben ohne Rächerpose eine höchst reale Geschichte: mit Abstand zum Geschehenen und mit bleibender innerer Beteilung zugleich. Verraten, und hier ist Schabowski recht zu geben, ist so ein wirkliches Gegenstück zum Leben der Anderen.
Auch wenn der Verrat den Titel dieses Films trägt – um den des »IM André Holzer« geht es ihm nicht. Der Verrat der seinerzeit agierenden »Sozialisten« und ihrer getreuen Mitmacher an der Idee (den Autor unter den letzteren lange eingeschlossen) an der Utopie steht zur Debatte, immer noch; auch dann, wenn der Realsozialismus nicht allein daran gescheitert ist. Und er muß dies immer wieder, wenn irgendein Sozialismus irgendwann noch jemals eine Chance haben sollte gegen die »beste aller Welten« unserer Tage. »IM Holzer« unterstreicht im Film, daß der Verrat nicht von ihm, sondern von den Dissidenten begangen worden sei; sie hätten »17 Millionen« verraten. Dieser Auffassung ist er auch heute noch, und genau das ist das Problem. Als Chefredakteur der jungen Welt setzt sich Arnold Schölzel – übrigens vom Staat weitgehend unbehindert – seit Jahren für eine bessere, eine sozialistische Zukunft Deutschlands ein. Beklemmend ist allerdings die Vorstellung, daß in dieser Zukunft alles wieder von vorn beginnen könnte.