von Henryk Goldberg
Nein, ich wollte nie Lokführer werden. Ich wollte Pilot werden. Joachim wurde Pilot, und 1990 war er arbeitslos, sein Arbeitgeber hieß NVA. Unser Lehrer Herr Stierwald, gesalbt soll er sein, hatte mir jedoch erklärt, ein Pilot sei schließlich und endlich auch nur ein besserer Taxifahrer, und ich könnte doch vielleicht Journalist werden, da wären Aufsätze sozusagen mein Beruf, und Aufsätze, sagte Herr Stierwald, seien ja wohl das einzige in der Schule, wofür ich einiges Interesse erübrigen könne.
Er hatte recht, manchmal fahre ich in andere Städte, bis Nordhausen rauf, oder gar, wie heute, bis Mühlberg hinter. Ja doch, unsereiner kommt was rum. Und dabei nutze ich vorliebig das Auto, der Redaktionshubschrauber ist meist schon gebucht für unsere mobilen Recherche-Teams. Vielleicht, weil sich im Auto der verhinderte Pilot im Manne ein klitzekleines bißchen angesprochen fühlt, vielleicht auch, weil ich da, allein im Auto, nur mit einem Menschen sprechen muß, der mich wirklich mag.
Was ich nicht so mag, das ist die Bahn, obgleich man da Gebrühtes trinken und Gedrucktes lesen kann. Kann sein, die Bundesbahn leidet da noch unter meinem Reichsbahnsyndrom. Das entwickelte sich vier Jahre lang in der sogenannten Bonzenschleuder, Montag sehr früh von Erfurt nach Berlin, Frau hier, Uni dort. Wenn ich einen Platz erkämpft hatte, steckte ich den Kopf unter die Jacke und ließ ihn dort bis Schönefeld. Der siebente Kreis der Eisenbahnhölle aber war die Rückfahrt am Freitag. Überwiegend die jungen Genossen der NVA (Nationale Volksarmee) auf dem Weg in den Heimaturlaub und die jungen Genossen der FIB (FDJ-Initiative Berlin). Die allerheitersten Anmerkungen zu bestimmten Aspekten der zwischenmenschlichen Beziehungen flogen, in der unverstellten Sprache unserer Menschen, fröhlich von Abteil zu Abteil.
Ja, unsere Heimat, das waren in der Tat nicht nur die Städte und Dörfer, das waren auch diese Abteile. Die ich auch später zu nutzen gezwungen war, quer durchs Land, um Theater zu sehen. Am Abend Hamlet, am Morgen Reichsbahn. Rein oder nicht rein, das war hier nie die Frage, weil es keine Alternativen gab, so hielt man doch einen gewissen Kontakt zum wirklichen Leben.
Manchmal fragte ich mich, wann diese jungen männlichen Menschen, die ihr Leben, folgte man ihren Erzählungen, so ganz, so ausschließlich dem Dienst der jungen weiblichen Menschen geweiht zu haben schienen, denn eigentlich die Zeit fanden, die paar Häuser zu bauen oder das bißchen Frieden zu schützen. Das Bier, der köstliche Trunk, floß in Strömen sowie über die Sitze, und es mag wohl in jener Zeit entstanden sein, daß ich Bier & Bahn irgendwie zusammendenke, und dann denke ich, so ein Auto sei doch eine schöne Erfindung.
Nur nach Leipzig, da nehme ich den Zug. Einmal im Jahr darf ich bis Leipzig, zur Pressevorführung von Harry Potter. Das ist immer ein angenehmer Arbeitstag. Eine Stunde Bahn mit lauter unbetrunkenen Menschen und bequemen Sitzen, eine Stunde Kaffee trinken, Zeitung lesen, bißchen Kino gucken, und dann alles wieder rückwärts, sehr angenehm das. Nur, daß sie jetzt gestreikt haben, wenn ich schon mal Bahn fahren will. Streß am Bahnhof, er fährt mich, er fährt mich nicht. Oder doch?
Harry, sicherlich, hätte den Besen genommen oder das Flohpulver oder den Fahrenden Ritter. Unsereiner, der nie in England zur Schule durfte, obgleich mir Mrs. Umbidge irgendwie bekannt vorkommt, muß dann halt wieder das Auto nehmen. Vielleicht hätte ich doch Lokführer werden sollen. Dann wäre das ein richtig entspannter Tag gewesen.
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