von Jörn Schütrumpf
Über Walter Rathenau schüttelten schon zu Lebzeiten seine Mit-Millionäre die Köpfe. Denn den Sohn des Begründers der AEG in Oberschöneweide bei Berlin trieb es von Jugend an in die Öffentlichkeit – mit philosophiegeschwängerten Traktaten ebenso wie als Wirtschaftpolitiker. Ab 1915 organisierte Rathenau jun., Direktor der AEG und Leiter der Rohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium, für die Kriegsverbrecher Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff wesentlich die deutsche Kriegswirtschaft – einen Staatskapitalismus vom feinsten, der Lenin so gut gefiel, daß er dieses Modell 1921 seinen eigenen Land verordnete. Die deutsche Bevölkerung während des Krieges hingegen war weniger angetan, denn diese erfolgreiche Wirtschaftsform gestattete zwar, den Krieg extrem zu verlängern, bescherte ihr aber statt des versprochenen Platzes an der Sonne Scheußlichkeiten wie den Kohlrübenwinter 1916/17 und den massiven Arbeitseinsatz von Frauen in der Rüstungsindustrie. Am Ende standen Revolution und aberwitzige Reparationszahlungen sowie – ein geläuterter Walter Rathenau, der nun in Außenpolitik machte und in Rapallo mit Lenins Rußland unter anderem die geheime militärische Zusammenarbeit vereinbarte. Vor 85 Jahren, am 24. Juni 1922, wurde der Reichsaußenminister in Berliner Grunewald von arbeitslosen Offizieren in seinem offenen Wagen erschossen. Begraben liegt er auf dem Friedhof Oberschöneweide, der in der lauschigen Wuhlheide angelegt wurde. Wenigstens die Zeit nach ihrem Tod sollten die AEG-Arbeiter in gesunder Umgebung verbringen.
Rathenaus Schicksal unterstrich nur noch einmal, daß Wirtschaftsgewaltige sich in der Öffentlichkeit besser zurückhalten, und es sowohl effizienter als auch der eigenen Gesundheit zuträglicher ist, die ungeheure Macht, über die sie verfügen, in aller Stille auszuüben. Denn Rathenau hatte nicht nur sich selbst, sondern sie alle unnötig ins Rampenlicht gerückt und zudem Deutschlands Antisemiten ein zusätzliches Haßobjekt geboten. Kein Wirtschaftsgewaltiger hat sich seit Rathenaus Ermordung mehr so weit wie er in die Öffentlichkeit hineinbewegt. Allerdings bedurfte es noch eines gewissen Umweges, dessen Kosten die europäische Bevölkerung treulich trug, bis die deutschen Wirtschaftsgewaltigen die Vorteile der parlamentarischen Demokratie für sich endgültig entdeckten.
Zuvor betrieben sie erfolgreich die Beseitigung der Demokratie von Weimar, indem sie alle nur erdenklichen antidemokratischen Bestrebungen, soweit sie von rechts kamen, finanzierten und sich am Ende mit der schlagkräftigsten, der nationalsozialistischen, verbündeten. Die Jahre in der Haft, die einige Wehrwirtschaftsführer dafür nach 1945 zu absolvieren hatten, machten aus Deutschlands Wirtschaftseliten – bis zum heutigen Tage – überzeugte Demokraten. Wie die Wolken die Götter auf dem Olymp vor den Blicken des gewöhnlichen Sterblichen schützten, liegt auch heute noch zwischen beiden eine geschlossene Wolkendecke, genauer gesagt: ein stabile Nebelbank, der politische Betrieb.
Nach den Jahrzehnten des Stellungskrieges – anderes ließen die Niederlage von 1945 und der Kalte Krieg nicht zu – sind Deutschlands Wirtschaftseliten am 3. Oktober 1990 gegen die Bevölkerung zum Bewegungskrieg übergegangen; seitdem ist an jedem 3. Oktober Staatsfeiertag.
Ihren Klassenkampf von oben lassen Deutschlands Wirtschaftseliten durch das politische Personal der alten Bundesrepublik exekutieren, dessen reinster Ausdruck Gerhard Schröder ist. Menschen »mit Hunger«, die von »ganz unten« nach ganz oben gelangen wollen; versetzt mit Hinterbänklern, die sich – zumindest instinktiv – stets bewußt sind, daß es bei ihnen für eine bürgerliche Karriere nie gereicht hätte. Beide Typen bildeten erfolgreich schon das Rückgrat des SED-Apparates.
Heute sind rechts wie links nur noch welke Hüllen. Das ahnte auch Heiner Geißler und entschied sich für attac statt für die Linkspartei.
Die Klaviatur, auf der die Wirtschaftseliten spielen, reicht über mehrere Oktaven; von der diskreten Korruption per dosierter Zuteilung wohlwollender Aufmerksamkeit – »Bringen Sie doch auch einmal Ihre Gattin mit« – bis zur offenen Erpressung per Drohung, scheu wie ein Reh davonzuspringen. Die Korruptionsfälle bei Volkswagen und Siemens machen nur den Stand der politischen Kultur in diesem Land kenntlich: Ohne Doping geht nichts mehr. Und die Justiz? Nichts Neues unter der Sonne. Die Kleinen henkt man, und die Großen läßt man laufen.
Die Linke, die mit einer vereinigten Partei in der deutschen Politik ein neues Kapitel aufschlagen will, befindet sich im Moment in der komfortablen Situation, sich ihre Zukunft aussuchen zu können: entweder vor lauter Glückseligkeit, endlich »gleichberechtigt« mitspielen zu dürfen, strategisch die SPD zu beerben und sich so zu Tode zu siegen, oder an der Auflösung der Nebelbank zu arbeiten und wenigstens Schlaglichter auf das Treiben der wirklich Mächtigen zu setzen.
Wolfgang Fritz Haug, der Altmeister des westdeutschen Marxismus, hat für das letztere vor zwei Jahren einen Vorschlag unterbreitet: »Weil noch keine Alternative zum Kapitalismus im Ganzen in Sicht ist, wird die sozialistische Einbettung der vielen Lösungen, die in irgendeiner Weise den Kapitalismus im einzelnen überschreiten, zur Tagesaufgabe. Alle Politik wird zunehmend zu Politik an der Grenze des Kapitalismus.« Und: »Um der Demokratie willen muß die Linke bestrebt sein, die Legitimationskrise der repräsentativen Demokratie in die Legitimationskrise des Kapitalismus zu überführen.«
Walter Rathenau, dem klugen Taktierer, hätte das nicht gefallen. Aber der war auch kein Linker.
Schlagwörter: Jörn Schütrumpf