von Detlef Kannapin
Dann platzte uns irgendwann der Kragen. Nicht nur, daß die Lohnarbeit genauso nervte wie die Jobsuche. Nein, dann setzten uns auch Freunde zu, die meinten, wir würden uns nicht mehr richtig um sie kümmern. Als wenn die Betreuung von acht Monate alten Zwillingen die Mobilität erhöhen würde. Kurzum, wir beschlossen, der Stadt für eine Woche den Rücken zu kehren.
Meine Frau, die Zwillinge und ich nahmen die Schaltpause bei meinen Schwiegereltern auf dem Land. Kurz vor der Abfahrt aus Berlin war ich einige Stunden allein. Sachen packen, denken, aufräumen, Fahrkarten mitnehmen und so weiter. Zur Reise gehört die Lektüre. Zuerst wollte ich den lange gewünschten und dann zu Weihnachten erhaltenen achtzehnten Band der Werkausgabe von Georg Lukács mit autobiographischen Texten und Gesprächen mitnehmen. Dann dachte ich an die Babysachen und die Schlepperei und unterließ es. Ein Buch sollte trotzdem mit. Die Entscheidung fiel zugunsten des jugoslawischen Philosophen Slavoj Zizek aus, dessen Abhandlung Parallaxe gerade erschienen ist. Das bisherige kursorische Hineinlesen könnte vielleicht überwunden werden. Beim Griff danach fiel mein Blick auch auf ein Einführungsbuch zu Zizeks Denken.
Erstaunlicherweise las ich in der Urlaubswoche trotz Großfamilienbetrieb und Zwillingshege viel darin. Ganz durch bin ich mit beiden Büchern nicht. Dazu sind die Überlegungen des Autors zu komplex. Parallaxe geht, kurz gesagt, davon aus, daß die dialektische Subjekt-Objekt-Relation in der Anschauung eines Gegenstandes oder Denkgebäudes nicht nur in einer Richtung funktioniert, sondern daß jeder Gegenstand und jedes Objekt sich durch die Wahrnehmungsposition des Betrachters verändern. Das heißt, es gibt keinen interpretatorischen Abschluß des Denkens, denn es kann sein, daß der neue Aspekt sich aus der elementaren Verschiebung des Betrachterstandpunktes ergibt. Nach Zizek ist das nicht beliebig. Der soziale Antagonismus der kapitalistischen Gesellschaft nutzt exakt diesen Zustand aus, um durch Interpassivität – wir verändern ein bißchen, um das große Ganze unangetastet zu lassen – das Denken schlicht einzuzäunen und unwirksam zu machen. Zizek dekliniert seinen Gedanken durch die Philosophie, die Neurobiologie, die Kunst und die Politik. Für ihn steht der dialektische Materialismus (wieder) vor der Tür, weil er einzig in der Lage ist aufzuzeigen, daß der Schlüssel zum Weltverständnis in der Differenz liegt. So wie es Hegel systematisierte und Marx praktisch anwendete.
Irgendwann, in der Auseinandersetzung Zizeks mit den Kognitionswissenschaften, bin ich dann hängengeblieben.
Obwohl ich normalerweise mit Einführungsbüchern auf Kriegsfuß stehe, weil die meisten von ihnen nur Instantwissen anbieten, die zum Weiterlesen nicht animieren, verhält es sich mit Slavoj Zizek zur Einführung von Rex Butler wohltuend anders. Der Anspruch des Buches besteht darin, Zizek nicht zu vereinfachen, sondern das Fragenkarussell noch um eine alltagsverständliche Dimension weiterzudrehen. Man erfährt zum Beispiel, daß die permanente Selbstbefragung von Zizek für ihn eigentlich der Zugang dazu ist, dem Idioten in sich selbst wieder und wieder zu erklären, was Sache ist. Außerdem kann man erfahren, warum Antigones »Nein!« so viel über politische Zustände verrät. Eine Gesellschaftsordnung und ein theoretisches System, die beide das diskursive Feld radikal verschieben und auf anderen Werten beruhen, können nur an ihren eigenen Maßstäben gemessen werden. Deswegen war und ist die Kritik am Sozialismus durch die bürgerlichen Instanzen oft nicht nur falsch, sondern sie erfaßt überhaupt nicht den Kern oder den Witz der Veranstaltung.
Mit derlei Erkenntnissen, die man sich immer mal wieder vor Augen halten muß, konnte ich gestärkt an die nächsten Aufgaben gehen. Der Nutzen kritischen Denkens ist zweifellos vor allem anderen die individuelle Selbstverständigung gegenüber den Gebrechen der Welt. Dann folgen der intellektuelle Austausch und im Idealfall kleine Schritte der Überzeugungsarbeit. Überdies werde ich meinen Kindern in einigen Jahren erläutern müssen, wer wie aus welchem Grund die Idee des Sozialismus ruinierte und was ich damit zu tun habe.
Jedoch komme ich nicht umhin, auch auf den Nachteil kritischen Denkens hinzuweisen. Während einer Nachtschicht bei den Kindern hielt ich einen Moment inne, hielt mit der Lektüre inne und starrte aus dem Fenster. Es muß ziemlich blöd ausgesehen haben, denn es vergingen einige Minuten, und draußen sah man ja nichts. Was, so meine Überlegung, passiert eigentlich mit meinem Wissen, wenn ich es für mich behalten muß, wenn ich keine Chance habe, im Rahmen einer Gruppe oder einer Institution für seine Verbreitung zu sorgen, wenn schließlich die Aneignung des Wissens wohl meinen Geist stärkt, ansonsten aber folgenlos bleibt?
Ich bin zu keinem Ergebnis gekommen. Dieser Nachteil kann wie ein Alp drücken. Hier ist dann Selbstreflexion angezeigt, die aus dem Nachteil wieder den Nutzen hervorholt.
Nach der Rückkehr war unsere Familie ruhiger. Zwar ist beileibe nicht alles geklärt, aber wir wenigstens sind jetzt ein bißchen klarer.
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