von Gerhard Wagner
Literatur wurde und wird immer von äußeren Realitäten angezogen. Aber nichts ist nachteiliger für die Weiterwirkung und Geltung eines Werks als die Deckungsgleichheit mit dem »Zeitgeist«, der nach Goethes Faust »der Herren eigner Geist« ist. Es muß in ihm stets eine unauflösbare Differenz zur Außenwelt vorhanden sein.
Wie im Werk Heinrich Heines. Helmut Bock will sich »dem politischen Menschen und dem historischen Denker« nähern, weil dieser die soziale Utopie und die Tragik ihres Scheiterns mit allen teile, »die mit ihm und nach ihm für diese Ziele stritten und streiten.« Zum Wesen seiner Darstellung zählen daher die Einbettung der Gegenstände in eine kulturhistorische Fragestellung, die Gegenwartsbezogenheit nicht im praktizistischen, sondern im epochalen Sinne. Insofern enthält zum Beispiel der Zwischentitel Matratzengruft. Ein Zeitalter wird besichtigt eine Untertreibung: Der Verfasser besichtigt nicht nur, sondern durchschaut vielmehr mit Heine eine Epoche. Er zeigt an markanten Beispielen wie den Lutetia-Berichten, daß im Werk des von Aufklärungstraditionen bestimmten Linkshegelianers, entstanden zu einer Zeit großer Welterschütterung, das ästhetische Denken ganz in das Soziale gewendet ist, der soziale Sensualismus eine gegen die Gesellschaftszustände gerichtete, kritische operative Lyrik und poetische Prosa hervorbringt.
Das Werk Heines wird darum prononciert als Produkt und Widerschein sozialer Vergegenständlichung und Reflexionsprozesse, als höchst sensibler Erfahrungsschatz des Inneseins in kollektiven Lebenswelten aufgefaßt, der die soziale, politische und philosophische Physiognomie der Epoche mitbestimmt und auf das Realitätsklima zurückwirkt. Sein aktueller Stellenwert wird begriffen sowohl innerhalb des weltweiten Epochenprozesses, wie er massenhaft gelebt und erfahren wird, als auch innerhalb einer routinierten Alltagspartikularität, die enthistorisierende Effekte haben, Positivismus, Theoriefeindlichkeit, illusionistische Verklärung, falsche Harmonisierungen und unkritische Modernisierungen hervorbringen kann.
So ist das kleine, leicht lesbare Buch auch ein Manifest mit einer gewichtigen Aufforderung: die Geschichte der sozialen Kämpfe als Ferment der eigenen historischen Bewußtheit produktiv zu machen, die konkrete Struktur und Vermittlung von lokaler, nationaler und internationaler sozialer Erfahrung zu erhellen, die Veränderungen in Gegenständen, Funktionen, Produktions- und Kommunikationsbedingungen der Literatur zu untersuchen, die mit den Prozessen der industriellen Revolution und der politischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts einsetzen. Unabweislich tritt in Helmut Bocks Begriffen wie »geschichtlicher Denker« eine historische Verschränkung zutage, die dem wachen Lesepublikum mittels Heine Interpretationen, Perspektiven und Anregungen zum Verständnis nicht zuletzt gegenwärtiger Kulturprozesse erschließt.
Helmut Bock: Heinrich Heine. »Verlor’ner Posten in dem Freiheitskriege«, Karl Dietz Verlag Berlin 2006, 106 Seiten, 9,90 Euro
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