von Henryk Goldberg
Unser Heimatsender mdr 1 Radio Thüringen spielt ein feines Spiel. Da stehen auf wechselnden Marktplätzen einige hundert Menschen und rufen wie wild Willi rück die Kohle raus! Diesem feinen Spiel unseres Heimatsenders, das die Sehnsüchte unserer Menschen auf den Punkt bringt, widmet unsere Landeshauptstadt ein Denkmal für mediale Innovation. Dieses Denkmal wird auf dem ehemaligen Hotel Erfurter Hof als Leuchtschrift installiert und geschrieben wird stehen: Willi komm ans Fenster. Das ist nicht ganz dasselbe wie die Kohle, aber es klingt ganz genau so. Und die Stadt will dafür tatsächlich Kohle rausrücken, für dieses Denkmal, das an den Besuch Willy Brandts 1970 in Erfurt erinnern soll.
Ich bin ein sogenannter Zeitzeuge und also verdächtig. Nein, ich war damals, zwanzig Jahre alt, nicht dort, weil ich etwas Politisches wollte. Es lag einfach etwas in der Luft, es brodelte in der Stadt, und ich wollte es erleben. Ich habe auch nicht gerufen Willy Brandt ans Fenster. Nicht, weil ich Angst gehabt hätte – die Weltpresse war ja da –, ich brülle einfach nur nicht gerne auf der Straße. Aber es war ein Tag, den ich nie vergessen werde, so sonderbar, so aufregend. Und nichts hat weniger mit diesem Tag zu tun als der Satz Willy komm ans Fenster.
Es ist nicht die Form dieses Denkmals, die Leuchtschrift. Das ist Ästhetik, darüber wird man nie eine gültige Vereinbarung erzielen, und darüber muß man nicht auf dem Markt abstimmen. Es ist dieser Satz. Und, die hochmögende Jury mag mir verzeihen, es ist seine unglaubliche Dämlichkeit. Nicht weil er so nicht gefallen wäre, nicht weil ich nicht noch zwanzig Jahre lesen will, was ich vor 37 Jahren hörte: sondern weil er mit der Atmossphäre, mit dem Klima und mit der Spannung dieses Tages nicht das Mindeste zu tun hat.
Eine Kunst, ich sage das nur vorbeugend, damit mir die Jury keinen erklärenden Brief des Inhaltes schickt, eine Kunst sei etwas anderes als eine Wirklichkeit; aber eines sollte sie doch sein: eine Übersetzung derselben. Und genau das ist die bieder-freundliche Tümlichkeit dieses Satzes nicht.
Es hieß, merkwürdig genug, der Künstler habe den kategorischen Imperativ des Originalsatzes abmildern wollen. Wieso? Warum? Warum muß man eine Forderung, deren Aggressivität zweifelsfrei nicht dem Besucher galt, sondern dem restriktiven Umgang der eigenen Obrigkeit mit ihm, abmildern? Ist nicht vielmehr dieser fordernde Imperativ, diese Demonstration im durch die Weltpresse geschützen Raum vielmehr das, was diesen Tag in die Erinnerung hebt? War es nicht genau die Angst vor dieser Atmosphäre in Erfurt, die elf Jahre später, beim Besuch von Helmut Schmidt, Güstrow in eine gespenstische Geisterstadt verwandelte? Eben weil man sich an die Forderung der Menschen aus Erfurt erinnerte, nicht an volktümliche Lieblichkeiten.
Das ist das Historische. Was nun aber das Philologische betrifft, so hat die Jury hier Weisheiten abgesondert, die es verdienten, mit goldenen Lettern in die Sockel von porzellanenen Hirschen gegraben zu werden: Der Satz Willi komm ans Fenster bette den Vorgang in einen weiten kulturgeschichtlichen Rahmen ein, der mit der Troubadour-Lyrik beginne und im Minnegesang weiter entwickelt wurde, sich als Motiv aber auch in Romeo and Julie und in Mozarts Don Giovanni finden lasse. Man muß wohl ein sehr, sehr starker Mensch sein, um derlei zu denken und zu veröffentlichen. Ich, zugegeben, hätte diese Stärke nicht.
Aber vielleicht wollten der Künstler und die Jury uns mit dieser mdr-Diktion feinsinnig wissen lassen, worum es, ihrer Meinung nach, damals wirklich gegangen sei: Willy rück die Kohle raus.
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