von Henryk Goldberg
Ach, ich möchte einmal solch ein Talent haben. Im Singen, im Radfahren, im Boxen oder, am liebsten, im Schreiben. Und dann, so ganz entspannt, so ganz lässig sagen: Na, ich könnte ja jetzt ein Buch schreiben mit dem Titel Hundert Jahre Einsamkeit, das wär ja ganz schön, aber das sind so viele Seiten, da schreib ich doch lieber paar Salons und bißchen Kritik. Ist ja auch nicht schlecht. Andere müssen den Hof kehren. Wenn ich auf die mögliche Erfindung des Magischen Realismus verzichtete und statt dessen Zeitung schriebe, dann wäre mein Potential wesentlicher ausgeprägter als meine Fähigkeit, damit umzugehen. Dann wäre ich wie Jan Ullrich.
Selten wohl hat ein Sportler ein so überragendes Talent derart verschwendet. Das Wort mag ein wenig unangemessen klingen, wenn man den Tour-Sieg, die Vuelta, olympische Medaillen und Weltmeistertitel zum Vorzeigen hat. Es ist jedoch genau das richtige Wort, wenn man das Potential dieses Mannes zum Maßstab nimmt. Mehr noch als der Umgang mit seinem Talent, das ihn immerhin einen ewigen Eintrag in der deutschen Sportgeschichte sichert, hat ihn der Umgang mit seiner Wahrheit geschadet. Rucke di gu, Blut ist im Schuh. Oder doch wenigstens im Beutel, der bei Dr. Fuentes hing. Ich habe niemandem geschadet – doch, mindestens sich selbst, und das nachhaltig. Und dann stellt sich noch heraus, daß sie nach der Talk-Show im Fernsehen beim Thema Doping gern ein paar Schnitte gehabt hätten, daß sie die Wiederholung der Sendung verhindern wollte. Und irgendwann werden Sie erklären, man könne schließlich sein Blut lagern, wo man wolle.
Ullrich fehlen die Intelligenz und die Mentalität, die Konsequenzen solcher winkeladvokatigen Schlaubergereien zu überschauen, das mag bis zu einem gewissen Grad verständlich sein für einen, dem begegnet wurde wie Boris Becker oder Michael Schumacher. Aber er hat sich mit Beratern umgeben wie mit einer Wagenburg, die kein Stück Wirklichkeit an ihn heranläßt. Und niemand sagt diesem Jungen, der aussieht wie ein Mann, daß ein netter Kerl sich nicht benimmt wie ein ausgebuffter Ganove. Das Schlimmste war vielleicht nicht einmal das Doping selbst, obgleich es schon hinreichend schlimm war, das Schlimmste ist der Umgang damit.
Und dennoch tut er einer Mehrheit der Deutschen irgendwie eher leid. Mir auch. Das Tragische daran ist, daß es einen netten Jungen, der, nach zehn Jahren Schule und zwei Jahren Lehre, ein ordentlicher Schlosser in Meck-Pom geworden wäre, durch eine überragende körperliche Fähigkeit in den Weltruhm befördert hat und daß, anders als bei anderen, seine übrigen Fähigkeiten dieser Entwicklung nicht gewachsen waren. So suchte sich der Junge immer Erwachsene zum Anlehnen, und es waren fast immer die falschen, fast immer die Bequemen.
Gewiß, muß man wohl sagen, ist die deutsche Gründlichkeit mit der ein solcher Fall behandelt wird, richtiger als die italienische Art, nach der ein in gleicher Weise belasteter Ivan Basso in diesem Jahr womöglich die Tour gewinnen darf, was vor allem dem Sport schaden würde. Objektiv und rational muß man das so sagen. Subjektiv und emotional murmele ich vor mich hin, die italienische Lebensart habe auch ihren Charme. Ich hätte ihn gern noch einmal fahren und siegen sehen, Gott helfe mir. So wie ich es, mit dem Gefühl, nicht mit dem Verstand, gern gesehen hätte, wenn Stephan Hermlins wunderbarem Abendlicht das erhellende Tageslicht erspart geblieben wäre.
Menschen haben eine Sehnsucht nach Lichtgestalten, ich auch. Und der Abschied von ihnen ist schwer.
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