Des Blättchens 10. Jahrgang (X) Berlin, 14. Mai 2007, Heft 10

Florenski lesen

von Mathias Iven

Unsere überkommenen Vorstellungen von Erinnerungs- und Feierkultur verlangen es, daß in jedem Jahr anläßlich »runder« Geburts- oder Sterbetage Würdigungen jeglicher Form veranstaltet werden. Meist wird so nur der eher bekannten Persönlichkeiten gedacht. Was ist jedoch mit denen, die es erst noch zu entdecken gilt?
Nehmen wir das Jahr 1882: Virginia Woolf wurde geboren, James Joyce erblickte das Licht der Welt, Charles Darwin starb, Robert Koch entdeckte das Tuberkelbakterium, die Gotthard-Bahn wurde eröffnet. All das geschah vor 125 Jahren, und jeder von uns ist mit den Namen und Ereignissen vertraut. In diesem Jahr wurde aber auch ein Mann geboren, der in der Sekundärliteratur mit Superlativen wie »Pascal unserer Zeit« oder »russischer Leibniz« bedacht wird. Und doch kennt den 1937 in der sibirischen Verbannung ermordeten Pawel Florenski kaum jemand …
Der 1882 in Transkaukasien geborene Florenski, der zwischen 1900 und 1908 Mathematik und Philosophie studierte, an der Moskauer Geistlichen Akademie eingeschrieben war und hier ab 1909 unterrichtete, der sich elektrotechnischen Fragen und der Technologie der Algenverarbeitung widmete, gilt mit seinen vielfältigen und teilweise überwältigenden Begabungen als einer »der lichtvollsten Repräsentanten des russischen Geisteslebens«. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit seinen Schriften steht im deutschsprachigen Raum allerdings noch immer aus. Seine Bücher, die sich mit mannigfaltigen Themen beschäftigen, sind eher ein Geheimtip, in einschlägigen Lexika sucht man vergeblich nach Informationen über ihn. Um so verdienstvoller ist es in einem solchen Fall, wenn mit einer Textauswahl versucht wird, sein Werk und sein Denken dem Leser nahezubringen.
Der Titel dieser Zusammenstellung sollte dabei nicht abschreckend wirken. Das, was hier als Konkrete Metaphysik vorgestellt wird (ursprünglich ein Werk von über tausend Seiten), versammelt Abschnitte aus den philosophisch-theologischen Schriften Florenskis genauso wie Auszüge aus seinen Briefen oder den Kindheitserinnerungen.
Es ist vor allem die Wortgewaltigkeit, die fasziniert. Da finden sich Sätze wie: »Sehe ich mit noch schärferem Blick in mich hinein, stoße ich auf etwas, was mich unser Dasein in den beiden, durch den Hof verbundenen Wohnungen gelehrt hat. Es ist die feste, organische Gewißheit eines mystischen ›es ist‹ gegenüber einem empirischen ›es scheint‹.« Es wird das Ideal eines ganzheitlichen Wissens beschworen, sind wir doch nur noch mit einzelnen »Disziplinen« befaßt.
Und auch unser Verhältnis zur Natur wird in Frage gestellt: »Der Mensch ist die kleine Welt, der Mikrokosmos. Die Umwelt ist die große Welt, der Makrokosmos. Der Mensch ist in der Welt; doch ist der Mensch ebenso kompliziert wie die Welt.« Schließlich fordert uns Florenski auf, das Gegebene immer wieder neu zu sehen, unsere Erfahrungen in Frage zu stellen, so, wie er es tat: »Daß es in der Welt Unbekanntes gab, war, wie ich erfuhr, nicht ein zufälliges Unvermögen meines bis dorthin noch nicht vorgedrungenen Verstandes, sondern eine wesentliche Eigenschaft der Welt. Unbekanntheit ist das Leben der Welt.«
Pawel Florenski für sich zu entdecken heißt, sich selbst neu verstehen lernen.

Pawel Florenski: Konkrete Metaphysik (hrsg. von Fritz und Sieglinde Mierau), Pforte Verlag 2006, 299 Seiten, 26 Euro