von Hartmut Pätzke
Noch einmal Revue passieren zu lassen, wie die Kunst in den Dienst des von Stalin und Shdanow 1934 postulierten Sozialistischen Realismus gestellt wurde, erleichtert das Verständnis für die Situation, in die ein junger Künstler gelangen konnte, wenn er es wagte, auch noch in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, eigene Wege zu gehen. Die Tauwetter-Periode seit 1956 war bald vorüber. Spektakuläre Aktionen des Machtapparates sind bekannt geworden, wie die Bulldozer-Aktion in der Manege-Halle am 4. November 1962 oder bald darauf, gleichfalls in Moskau, die Schließung der Taganka-Ausstellung nonkonformistischer Kunst.
Die Monographie zum Werk des russischen Künstlers Michail Semjakin von Heike Welzel ist die erste umfassende Würdigung dieses inzwischen international geschätzten Malers, Graphikers und Plastikers. 1943 in Moskau geboren, lebte er bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr auf Grund des hohen militärischen Ranges seines Vaters, eines Osseten, unmittelbar nach der Kapitulation in Kaliningrad und später in Deutschland, zuletzt in Brand-Erbisdorf.
Dank seiner Begabung kam er an das Repin-Institut in Leningrad, von dem er jedoch 1959, ein Jahr vor einem Abschluß, wegen Disziplinschwierigkeiten aufgrund des Vorwurfs des Formalismus verwiesen wurde. Das ergab sich aus seiner Begeisterung für Mystisches, ausgelöst durch die Auseinandersetzung mit russischen Ikonen und mit dem Werk von Matthias Grünewald. Er begann, fußend auf der vorbildlichen akademischen Ausbildung, sich autodidaktisch fortzubilden.
Von 1961 bis 1964 war Semjakin in der Eremitage angestellt. So war er als Nutzer der Bibliothek für seine theoretischen Studien begünstigt. Die Mitgliedschaft im offiziellen Künstlerverband, der einige Vorteile geboten hätte, blieb ihm aufgrund des fehlenden Diploms verschlossen. Semjakin wurde zu einem »inoffiziellen Künstler.« Das bedeutete auch die Suche nach einem individuellen künstlerischen Weg. Was er machte und zeigte, durchaus realistisch, war aber keineswegs im Kanon des Sozialistischen Realismus und stieß so unweigerlich auf Ablehnung und Verfolgung durch staatliche Institutionen, die in einem Lande mit nur einer regierenden Partei, der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, im Bunde waren.
Doch hatte der Künstler Gleichgesinnte in Leningrad, mit denen er sich in der Gruppe Petersburg zusammenfand. Anfang 1970 kam die Pariser Galeristin Dina Vierny, einst Modell des Bildhauers Aristide Maillol (1861-1944) und dessen Erbin, in Semjakins Atelier. 1971 veranstaltete sie in Paris die erste Einzelausstellung mit seinen Werken, die illegal ausgeführt worden waren. Es gab viel Zustimmung zu dieser Ausstellung. Um zu befürchtenden Drangsalierungen von sowjetischer Seite zu entgehen, reiste Semjakin aus. Am 25. Dezember 1971 traf er mit seiner Familie in Paris ein.
In der Sowjetunion hatten insgesamt fünf Ausstellungen stattgefunden. Seine letzte große Ausstellung, 167 Arbeiten, hatte er in Akademgorodok/Novosibirsk. Sie brachte dem Direktor der Galerie, Michail Makarenko, eine Verurteilung zu acht Jahren Haft wegen »ideologischer Sabotage« ein. Schon Semjakins Arbeiten zum Werk von E.T.A. Hoffmann waren auf Widerwillen gestoßen. Auch zum Raskolnikow von Dostojewski machte er Illustrationen.
Noch im Jahre 1976 ereignete sich in der Deutschen Demokratischen Republik ähnliches: Der Direktor des Museums in Hinterglauchau, Bezirk Karl-Marx-Stadt, Günter Ullmann, wurde wegen einer Gerhard-Altenbourg-Ausstellung kriminalisiert. Zugleich wurde ihm jegliche Tätigkeit auf kulturellem Gebiet untersagt.
Nach einer enttäuschenden Ausstellung 1980 in London und der Weigerung Pariser Galeristen, seine Werke auszustellen, ging Semjakin 1981 nach New York. Dort stellte er in der Galerie von Eduard Nakhamkin aus, der auch Ernst Neiztvestnyj vertrat. Neiztvestnyj war einst von Nikita Chruschtschow verdammt worden, hatte aber später trotzdem dessen Grabmal gestaltet.
1984 schon erhielt Semjakin die Ehrendoktorwürde der Universität von San Francisco, im gleichen Jahr wurde er Mitglied der New Yorker Akademie der Wissenschaften und in Frankreich 1994 mit dem Orden Chevalier des Arts et Lettres dekoriert. 1993 verlieh ihm Boris Jelzin anläßlich eines Besuches in Washington den Staatspreis für Kunst und Literatur der Russischen Föderation. Die Statue »Peters des I. (des Großen)« für die Stadt, die wieder seinen Namen trägt, sollte das erste Denkmal für einen Zaren sein, das nach 1917 aufgestellt wurde. Mit dem Denkmal für die Opfer der politischen Repression – Metaphysische Schwingungen und dem Monument für die Erbauer von St. Petersburg gewann Semjakin eine außerordentliche Position in der Kunst des nachsozialistischen Rußlands.
Dissertationen, die zum Beispiel am Kunstgeschichtlichen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin in den achtziger Jahren verteidigt wurden, eine ganze Reihe Bücher, besonders aus dem Verlag der Kunst, unter anderem Ilja Ehrenburgs Französische Hefte (Band 5 der verdienstvollen Fundus-Bücher, die mit Ernst Fischers Von der Notwendigkeit der Kunst 1959 begannen), und das Buch zu Robert Falk von Dmitri Sarabjanow vermisse ich. Sie alle berühren zwar das Lebenswerk von Michail Semjakin nicht direkt, sind aber unter Umständen für die Klärung kunstgeschichtlicher Phänomene der russischen Kunst insgesamt nicht ohne Belang.
Heike Welzel: Michail Semjakin – Malerei und Graphik. Von der inoffiziellen Kunst zur russischen Kunst im Exil, Gebrüder Mann Verlag Berlin 2006, 328 Seiten mit 70 Abbildungen und 8 Farbtafeln mit 18 Abbildungen, 58 Euro (D), 98,00 sFr
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