Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 28. Mai 2007, Heft 11

Alles klar, Herr Präsident?

von Uwe Stelbrink

Oh, man konnte schon ein wenig irritiert sein in den letzten Wochen. Obwohl ER schwieg, »in der Sache«, wie es so schön heißt, ward ein gewaltiges Rauschen, erzeugt von den Aposteln SEINER HERRschaft, kräftig verstärkt um des Volkes Stimme und dessen Blätterwald. Der Untergang des Abendlandes dräute, und wer es nicht glauben mochte, mußte es doch, als ER sich mit dem Gehörnten selbst traf. Wo, weiß man nicht, aber man kann sich IHN schlecht in der Warteschlange einer Gefängniskantine in Bruchsal vorstellen, Tablett in der Hand, langsam vorrückend: »Einen Kaffee. Für Sie auch? Mit Milch und Zucker? Nein, okay, dann schwarz.« Noch weniger, daß ER die Bitte (Bitte, ja das hat ER drauf) äußert: »Wollen Sie ihm nicht, BITTE, die Handschellen abnehmen?«  Weil – wie soll man mit dem Bösen manierlich reden, wenn man ihm zuvörderst nicht einmal die Hand reicht. Etikette ist keine Petitesse, das weiß ER. Aber irgendwie, irgendwo muß es gewesen sein. So oder so. ER hat mit ihm geredet. Es stand in der Zeitung.
Was konnte, nein: mußte, ein getreuer Apostel daraus schließen? Daß der Prophet selbst wankelmütig werden könnte. Und Gnade vor Recht ergehen lassen könnte. Und das dem Bösen selbst gegenüber, wenn der auch um Gnade gebeten hatte. Da sei – ja, wer denn noch, wenn nicht ER? – vor!
Wo kämen die Apostel, insbesondere die südländisch ansässigen, denn hin, wohin erst SEINE HERRschaft, wenn ER dem Bösen, der doch nicht einmal bereute, bereuen wollte, konnte oder was weiß ER denn schon, eine Gunst erwiese, die ihm doch nicht zustand. Da er doch einfach daran festhielt, daß er der HERRschaft, um derentwillen er zum mehrfachen Mörder wurde, zu werden müssen glaubte, immer noch die Krätze und das Ende obendrein an den Hals wünschte. Und das öffentlich! Das gab es ja nicht einmal zu Zeiten der Heiligen Inquisition! Da war Reue Voraussetzung, daß der Böse wenigstens SEINEN Segen bekam, bevor die Strafe unverändert vollstreckt wurde. Und das war eben die Gnade!
Was blieb da den Aposteln, den südländischen insbesondere, als IHM mitzuteilen, daß ER mit ihren Stimmen nicht mehr rechnen könne, wenn demnächst im Olymp wieder über IHN abzustimmen sei.
Und ER? Hat lange abgewogen, mit den Angehörigen der Opfer gesprochen, Gutachten gelesen, zum Beispiel eines der Gefängnisdirektion. Und gewartet. Lange. Und als des Volkes Zorn gerade dabei war, sich aus den Mäulern SEINER Apostel  vollends über IHN zu entleeren, was selbst IHR zuviel war (hat SIE mitgeteilt zumindest, öffentlich sogar) hat ER schlicht gesagt, nein, SEINEN Herold mitteilen lassen:
Keine Gnade. Hab keinen Grund dafür gefunden.
Das Volk und seine Zeitungen sind sich sofort einig: ER hat eine weise Entscheidung getroffen! Und alle huldigten IHM und erwiesen SEINEM Amte Respekt. Und SEINE Apostel, die südländischen insbesondere, werden IHM wohl wieder ihre Stimme geben (müssen): ER hat sie erhört!
Es wäre auch unerhört gewesen, wenn ER Gnade hätte walten lassen – und damit eine neue Geschichtsdebatte ohne Not ins Land geworfen. Wo doch alles so schön auf ewig definiert ist. Noch schlimmer: ER hätte die Gewißheit zerstört, daß auch nicht der Anschein einer Revolte gegen SEINE HERRschaft erlaubt ist. Selbst wenn die Revolte die HERRschaft nie in Frage stellte, eher befestigte. In eine Burg, die unser HERR seitdem für uns alle immer sicherer gemacht hat.
Gnade ER IHM, beteten die Apostel. Aber ER hat sich gefangen. In SEINEM Geiste. Und sich als der ERSTE Diener SEINER HERRschaft erwiesen.
Wofür er ja gewählt wurde. Die Welt ist wieder in Ordnung.
Alles klar, Herr Präsident?