Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 2. April 2007, Heft 7

Meine Fahrt nach Ramadan (I)

von Reinhard Stöckel

I

Alle hatten mich gewarnt: Die Kollegen vor Terroristen, die Dame im Reisebüro vor der langen Bahnfahrt, und meine Frau sagte am Morgen meiner Abreise: Du, Schatz, dort unten ist gerade Ramadan.
Woher kommt denn der? Liebling, sagte sie ernst, Ramadan ist nicht der Name eines Staatsgastes. Das ist der muslimische Fastenmonat: von Sonnenauf- bis -untergang nicht Essen, Trinken, Rauchen. Und Sex?, fragte ich. Meine Frau sah mich prüfend an. Na, sagte ich, da werd ich mal noch was essen. Meine Tochter hielt ihren Teller fest und brüllte lauthals, als ich daran zog.
Ich versuchte, sie zu beruhigen: Mama, kocht dir einen neuen Griesbrei. Papa muß jetzt viel essen. Papa muß zum Ramadan. Meine Tochter ließ aber nicht los und sagte nur: Papa soll aber nicht nach Ramadan. Da, sagte ich zu meiner Frau, mein Testament. Ich herzte ein letztes Mal Frau und Kind und fuhr los nach Istanbul, den Bauch voller Griesbrei, bepackt mit einem Rucksack (50 Prozent Lebensmittel) und einer Gürteltasche, die gut als Sprengstoffgürtel durchgehen konnte. Damit würden mich die Islamisten als einen der Ihren feiern. Dumm nur, wenn das die Grenzbeamten auch so sähen. Nun gut, die ersten waren die Tschechen: Die Pässe bittää! Das Deutsch der Tschechen klingt immer ein bißchen nach Karel Gott am Samstagabend: Keinän Paas? Na, macht nichts. Hibscher Girtäl auch. Na daan: Gutää Reisää!
Die Reisää zog sich hin, und beinahe wäre der Wunsch meiner Tochter – Papa, soll nicht nach Ramadan – in Erfüllung gegangen. Der Zug verspätete sich: zehn Minuten, zwanzig Minuten, dreißig …: Ich würde in Wien meinen Balkanexpreß verpassen! Ich trug dem Schaffner, inzwischen ein Österreicher, mein Problem vor. Der besah sich meinen Zettel mit den Zugverbindungen: Istanbul??? Was wollens da unten bei die Türken?? Bleibens halt in Wien! Durch einen raffinierten eisenbahnstrategischen Schachzug, den zu erläutern, hier zu weit von meiner Haupterzählroute wegführen würde, gelang es mir doch noch, meinen Balkanexpreß zu erreichen.
Allerdings fehlte der Schlafwagen. Den hamma heit net dabei, sagte der Schaffner, der wird in Budapest anghängt. Setzen Si halt solang in d erste Kloassen. Dann endlich, weit nach Mitternacht: Budapest Hauptbahnhof. Da stand er: Mein spalnyi wagon. Doch vor dem Paradies stand der Kondukteur, der bulgarische Schlafwagenschaffner. Er sah auf meine Fahrkarte, dann auf mein Schlafwagenbillett. Dann wieder auf die Fahrkarte. Dann sagte er: Falsches Billett.
Wieso?, fragte ich, und tippte auf die Fahrkarte: Da Sofia und da, ich zeigte auf das Schlafwagenbillett: Da auch stehen Sofia. Ja, ja, sagte er und nickte. Aber diese Zug, er deutete auf den spalnyi wagon, fahren über Belgrad nach Sofia. Billett gilt für Bukarest – Sofia. Ich verhandelte. Plötzlich, sagte er: Du deutsch. Woher? Ich sagte: Cottbus. Also da. Ich deutete auf eine Säule des Bahnhofdachs: Berlin, da, die nächste Säule: Dresden. Und hier: Ich zeigte auf mich: Cottbus. Ah, sagte er, DÄDÄÄRR. Da, da, sagte ich. Er tätschelte den spalnyi wagon, als sei es ein alter Gaul: Zwickau, sagte er, Waggonbau Zwickau.  Daß mir diese Vergangenheit noch mal nützlich sein würde … Freundlich geleitete er mich auf meinen ehemals sozialistischen Lagerschlafplatz.
Doch noch war ich nicht in Sofia. Mein bulgarischer Bruder hob mahnend den Finger und wiegte bedenklich den Kopf: Oh, oh, sagte er, serbski Kondukteur, du bezahlen. Die Serben. Ja, natürlich, ich mußte durch Serbien. Hatten wir die nicht irgendwann bombardiert? Und jetzt hatte ich nicht einmal eine Fahrkarte. Vielleicht sollte ich lieber noch umsteigen, lieber auf einer Holzpritsche sitzend durch Rumänien als liegend durch Serbien? Hoffentlich mußte ich nicht noch für mehr zahlen als für die Fahrt durch serbisches Staatsgebiet. Die würden mich doch glatt aus Vergeltung für ihren Slobodan und die zerbombten Eisenbahnbrücken vor ein Schwarzfahrertribunal stellen. Schicksalsergeben kroch ich unter die Decke. Schlaflos rollte ich der serbischen Grenze entgegen.
Als der Schaffner gegen 2.00 Uhr nachts in der Abteiltür stand, versuchte ich, mich als Russe zu tarnen: Odin billet, poschalsta. Der Serbe fragte ungerührt zurück: Zahlen Sie in Euro oder Dinar? Vierundzwanzig Stunden später passierten wir die bulgarisch-türkische Grenze. Der Zug hielt, und wir sollten alle aussteigen. Das war ein bißchen unheimlich, und ich äugte vorsichtig aus dem Fenster. Die anderen Fahrgäste strebten schlaftrunken dem Gebäude der türkischen Grenzpolizei zu. Sie schienen ziemlich gelassen. Sind ja auch Türken, dachte ich. Aber ich? Ich werde jetzt möglicherweise wegen Frau Merkels Bevorzugter Partnerschaft von den Türken ebenso bevorzugt behandelt.

II

Endlich in Istanbul. Eine Stadt im Ramadan. Von Sonnauf- bis -untergang nicht essen, rauchen, trinken. Ich war entschlossen, meine kulturellen Studien mit Konsequenz zu treiben. Zugegeben, ein bißchen fürchtete ich auch den Zorn der Muslime. Es hatte ja auch seinen Vorteil, man mußte nicht so oft auf Toilette. Dieser erste Tag im Reich des Propheten wurde lang, sehr lang. Ich genoß die Sehenswürdigkeiten: Stände mit leckeren Sesamkringeln, brutzelnde Fleischspießen an Dönerbuden, die Süßwarenauslagen auf dem Basar, menschenleere Restaurants, wo Kellner einladend winkten … Ich grinste: Winkt ihr nur, mich kriegt ihr nicht! Gegen Mittag kaufte ich mir schon mal einen der knusprigen Sesamkringel. Der Verkäufer wollte ihn mir gleich in die Hand drücken, doch ich schüttelte entschieden den Kopf und murmelte bedeutungsschwer: Ramadan. Die verpackte Leckerei verstaute ich tief unten in meinem Rucksack.
Zur besten Kaffeezeit suchte ich mir ein stillen Ort, nirgends fand ich ihn, überall Menschengewimmel und -gewühle. Und alles nicht essende, nicht trinkende, nicht rauchende Türken … Da dachte ich, wenn schon kein stiller Ort, dann eben ein stilles Örtchen. Ich saß schon auf der Brille und kramte nach meinem Kringel. Ach, wie der duftete, so verführerisch, doch nicht stark genug, um den Geruch von Putzmitteln und Urin zu übertreffen. Nein, sagte ich mir, nein und nochmals nein, das nicht! Fluchtartig verließ ich die öffentliche Bedürfnisanstalt. Hungrig, aber stolz wie ein Türke.