Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 19. März 2007, Heft 6

Werner Schmidt

von Mario Keßler

Zu den bemerkenswertesten Zeugnissen des Überlebenskampfes im Nazireich gehört Leben an Grenzen. Autobiographischer Bericht eines Mediziners aus dunkler Zeit – ein Buch, das zuerst 1989 erschien und jetzt in fünfter Auflage als Taschenbuch vorliegt. Sein 1913 geborener Verfasser Werner Schmidt nahm 1932 das Medizinstudium an der Universität Gießen auf. Die Errichtung des Naziregimes veränderte sein Leben schlagartig, denn er war ein sogenannter Halbjude. Die Nürnberger Gesetze erklärten ihn für rechtlos. Unter kaum glaublichen Bedingungen gelang ihm dennoch die Fortsetzung des Studiums, 1942 sogar die Promotion – allerdings nur unter der Bedingung, daß Schmidt von der Führung des Doktortitels keinen Gebrauch mache und auf die Ausübung des Arztberufes verzichte.
Sein verehrter Lehrer Josef Heine gewährte dem Internisten an einem katholischen Krankenhaus in Hamburg Schutz. 1944 kam Schmidt dann am Kerckhoff-Forschungsinstitut in Bad Nauheim unter, wurde aber schließlich zur Organisation Todt zur Zwangsarbeit verpflichtet. In Dresden wurde er Augenzeuge des alliierten Luftangriffes vom 13. Februar 1945. Schmidts Mutter wurde, nachdem sie schon vorher in sogenannter Schutzhaft war, kurz vor Kriegsende nach Theresienstadt deportiert, sie überlebte das Konzentrationslager.
In sehr sorgfältiger Sprache, die Naziterminologie stets in Anführungszeichen setzend, porträtierte Werner Schmidt kurz, doch prägnant seine Zeitgenossen: die wenigen heimlichen Helfer, die größere Anzahl der fanatischen Nazis und die vielen Mittäter, die sein Leben, ein Leben auf Abruf, kreuzten. Immer gefährdet, entkam er oft nur sehr knapp der stets drohenden Verhaftung und Ermordung. Der Kriegseinsatz als Arzt im Hinterland des zerfallenden Reiches war für ihn der Vorhof des Todes. Ständig war Schmidt von Denunziation bedroht. Bei einem Weihnachtsurlaub in Gießen erfuhr er von den medizinischen Versuchen der Mörder im Weißkittel an Gefangenen. Was ihn aufrecht hielt, war die Sorge um das Schicksal seiner Familie, waren aber auch Theater und Literatur als Lebenselixier.
Die Befreiung erlebte Werner Schmidt in der Nähe von Leipzig. Es gelang ihm tatsächlich, sich nach Theresienstadt durchzuschlagen und seine Mutter herauszuholen. Die Nachkriegszeit begann verheißungsvoll, zumal Schmidt seine spätere Frau Herta, eine Schauspielerin, kennenlernte. Der Ehe entstammten zwei Kinder: der Musiker Thomas Lesch Schmidt und die Schriftstellerin und Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz.
Nach Kriegsende wurde Werner Schmidt kommissarischer Leiter der Medizinischen und Nervenklinik der Universität Gießen. Die Universität war zuvor als Hochburg des braunen Ungeistes zunächst von den Amerikanern geschlossen worden. Nach ihrer Neueröffnung waren Antifaschisten zunächst gefragt – doch nicht lange.
Dem geschäftsführenden Leiter wurde alsbald ein Ordinarius vorgesetzt, der Schmidt fachlich unterlegen war, dabei aber jenen Geist des Beschweigens verkörperte, der nicht nur unter Medizinern karrierefördernd war. Dies paarte sich mit skrupellosem Durchsetzungsvermögen sowie aggressiver Abwehr gegenüber denen, die allein durch ihre Anwesenheit die Mittäter an einstiges Versagen erinnerten. »Wenn Sie glauben, daß Ihre Erlebnisse im Dritten Reich noch ins Gewicht fallen, so haben Sie sich getäuscht. Das ist längst passé«, mußte Schmidt hören. Er blieb die Antwort nicht schuldig: »Glauben Sie, daß ich Positionen und Titel mit Mitteln erlangen will, wie sie im Dritten Reich oft üblich waren? Ich denke nicht daran. Für mich und viele ehemals Verfolgte sind im übrigen die Geschehnisse während des Dritten Reiches noch lange nicht passé.«
Werner Schmidt wunderte sich nicht, daß ihm einflußreiche Mitglieder der Gießener Fakultät – er nennt sie häufig mit Namen – Position und Titel vorenthalten wollten. Seine Habilitation gestaltete sich 1951 zu einem teilweise unwürdigen Hickhack. Gegen seine Beförderung zum außerplanmäßigen Professor gab es Widerstände, doch mußte er schließlich ernannt werden.
An den Kräfteverhältnissen in Gießen konnte er natürlich nichts ändern. Nach der Ernennung zum Professor zog er es vor, eine Universität zu verlassen, in der ehemalige SS-Ärzte ein höheres Ansehen genossen als ihre einst wehrlosen Opfer. Er wurde ärztlicher Direktor am Stadtkrankenhaus Hanau. Seine Autobiographie, die er in den 1970er Jahren schrieb, fand zunächst keinen Verleger – Schmidt hatte die Gesellschaft des Nazireiches allzu deutlich und mit allzu vielen namentlichen Beispielen geschildert. Schließlich aber wurde das Werk 1990 mit dem Literaturpreis der Bundesärztekammer ausgezeichnet.
Am Ende seines bewegenden und brillant geschriebenen Buches zitierte Werner Schmidt den Historiker Golo Mann, einen Emigranten und, gleich Schmidt, sogenannten Halbjuden: »Wer die dreißiger und vierziger Jahre als Deutscher durchlebt hat, der kann seiner Nation nie mehr völlig trauen … Der wird, wie sehr er sich auch Mühe geben mag und soll, in tiefster Seele traurig bleiben, bis er stirbt.« Es blieb ein Schatten, schrieb Schmidt, »der sich nur allmählich aufhellte und bis heute nicht völlig gewichen ist«.
Werner Schmidts schlicht als Bericht betiteltes Erinnerungswerk ist ein Mahnmal, das Victor Klemperers Tagebüchern an die Seite zu stellen ist. Doch mehr als Klemperer zeigte Schmidt, wie der einzelne mit noch so begrenzten Mitteln und in noch so aussichtsloser Lage sich nicht in die ihm zugedachte Rolle des Opfers drängen ließ. Das Buch sollte zur Pflichtlektüre nicht nur für jeden Mediziner, sondern für jeden Deutschen werden. Sein Autor, ein hochgebildeter und dabei bescheidener, im besten Sinne nobler Mensch, ist am 18. Januar im Alter von 93 Jahren gestorben.

Werner Schmidt, Leben an Grenzen. Autobiographischer Bericht eines Mediziners aus dunkler Zeit, Suhrkamp-Taschenbuch 2162, Frankfurt/Main 304 Seiten, 11 Euro