Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 5. März 2007, Heft 5

Viel Erotik und etwas Sozialkritik

von F.-B. Habel

Die einzelnen Sektionen der Berliner Filmfestspiele zeigen viele hundert Filme, allein 22 liefen in diesem Jahr im offiziellen Wettbewerb. Welche soll der Kritiker da für einen repräsentativen Überblick ansehen? In diesem Jahr wurde mein Alptraum wahr. Ich habe jeden der Hauptpreisträger verpaßt, die einen, weil sie zur Unzeit liefen, die anderen, weil ich sie für zu kopflastig hielt. Wenn man den Kollegen glauben darf, hatte ich mit letzterem Argument sogar recht. Prämiiert wurden eher prätentiöse Außenseiter, die es im Kinoalltag schwer haben dürften.
Dabei war ich sicher, einen der Preisträger gesehen zu haben. Irina Palm des noch wenig bekannten Regisseurs Sam Garbarski war eine hinreißende Tragikomödie, die alles hatte, was ein guter Film braucht: eine starke, eigentlich tragische Geschichte mit Blick für Widersinn erzählt, ein sozialkritischer Hintergrund und eine überwältigende Hauptdarstellerin. Die Sängerin Marianne Faithfull, die im Frühjahr wieder auf Tour geht, ist seit vier Jahrzehnten immer mal wieder auf der Leinwand erschienen. Doch eine so überragende Rolle hat sie noch nicht gespielt. Maggie lebt von einer kleinen Witwenrente in einem Londoner Vorort und ist nicht in der Lage, der Familie ihres arbeitslosen Sohnes zu helfen, als der kleine Enkel totkrank ist und ihm nur eine aufwendige Operation in Australien helfen könnte. Als sie einen Job als »Hostess« annehmen will, muß sie erfahren, daß sie hier als Liebesdienerin gebraucht wird. Wie sich die scheue Frau überwindet und durch ihr Talent unter dem Künstlernamen Irina Palm zu einem Star der Branche aufsteigt, spielt die Faithfull gemeinsam mit ihrem Partner Miki Manojlovic zurückhaltend und mit Herzenswärme. Dabei wird nichts verniedlicht. Die Knochenarbeit und der Konkurrenzdruck im Prostituiertenmilieu sind ebenso ein Thema, wie Arbeitslosigkeit und Mißstände im Gesundheitswesen. Daß der Film einen Publikumspreis erhielt, konnte nicht darüber hinwegtrösten, daß ihm eigentlich einer der Bären gebührt hätte.
Im Grunde hatte Irina Palm die beiden Hauptthemen vereint, die die meisten Filme der Berlinale prägten: erotische Verwicklungen, die durch soziale Verwerfungen an Brisanz gewinnen. Der südkoreanische Film No regret aus der Panorama-Sektion erzählt von Sumin, einem ehemaligen Waisenjungen in Seoul, dessen Traum von einem Kunststudium platzt, und der sich als Stricher in einer Sex-Bar verdingt. Jaemin ist ein junger Mann aus reichem Hause, der sich in ihn verliebt. Sie träumen vom gemeinsamen Leben. Aber die Familie will eine Karriere als Familienvater und Wirtschaftsboss für den Sohn. Das Ende ist böse. Der arme Stricher sieht seine Gefühle verletzt und rächt sich.
In ein vertrauteres, und doch ähnliches Milieu führte der ungarische Film Férfiakt – ebenfalls im Panorama. Regisseur Károly Esztergályos hat sich deutlich an Thomas Manns Tod in Venedig angelehnt und erzählt von einem jungen Mann aus unterprivilegiertem Haus, der gutsituierte Künstler in mittleren Jahren verführt. László Gálffi spielt einen alternden Schriftsteller, der feststellen muß, daß er nicht der einzige ist, dem der Junge seine Liebesdienste schenkt.
Ist es eine Tendenz, daß bei gleichgeschlechtlichen Liebesgeschichten kriminelle Handlungen eine Rolle spielen? Dieser Aspekt fand seine Kulmination in dem israelischen Film The Bubble von Eytan Fox, in dem sich ein palästinensischer Soldat in einen jungen Israeli verliebt und nach seiner Entlassung zu ihm nach Jerusalem zieht. Die Liebe der beiden wird durch die Intoleranz der palästinensischen Eltern zerstört und durch den Schwager, dem Drahtzieher von antiisraelischen Terrorakten. Als der Held am Schluß keine Perspektive für sich und seine Liebe mehr sieht, zieht er als Selbstmordattentäter seinen Geliebten mit in den Tod.
Auch der hochgelobte britische Film Tagebuch eines Skandals erzählt von der zerstörerischen Seite gleichgeschlechtlicher Liebe. Hier ist es eine gegenüber ihren aus der Unterschicht stammenden Schülern äußerst hochmütige Lehrerin kurz vor der Pensionsgrenze, die sich in eine neue Kollegin verliebt. Als sie deren Geheimnis entdeckt, ihr Verhältnis mit einem Schüler, spinnt sie Intrigen und versucht mit Erpressung, sie an sich zu binden. Die Hauptrollen sind von (der schauspielerisch überwältigenden, aber mit über 70 doch etwas alt besetzten) Judi Dench und der Australierin Cate Blanchett hervorragend besetzt, die Dialoge sind geschliffen, und doch gibt es auch da ein ungutes Gefühl. Müssen gleichgeschlechtlich Liebende immer in die Kriminalität abdriften? Werden da nicht Vorurteile bestätigt, die eigentlich abgebaut werden sollten?
Eine andere große Liebende des Wettbewerbs war Edith Piaf. Die Lebensgeschichte der großen kleinen Frau des französischen Chansons, deren Affären Legion waren, wurde von Olivier Dahan in dem Film La vie en rose merkwürdig kühl erzählt. Die Handlung sprang unmotiviert zwischen vielen Zeitebenen, und nur der Zweite Weltkrieg – ausgerechnet der! – spielte überhaupt keine Rolle. Wären nicht die wandlungsfähige Hauptdarstellerin Marion Cotillard und die atemberaubenden Lieder der Piaf, hätte man den Film nur schwer ertragen können. Vielleicht ist diesem Stoff überhaupt das Genre des Radio-Features angemessener als der Film.
Bleibt noch Jacques Rivette, der Altmeister des französischen Kinos. Mit Die Herzogin von Langeais hat er erneut eine Novelle von Balzac adaptiert. Rivette läßt sich für seine Liebesgeschichte zwischen einer Herzogin (Jeanne Balibar) und einem kriegsversehrten hohen Offizier (Guillaume Depardieu in seiner ersten Hauptrolle nach langer Zeit) viel, manchmal zu viel Zeit. Und doch zieht sein spröder Stil den Zuschauer in die Geschichte hinein. Es gibt keine Filmmusik. Schritte hallen, Requisiten klappern; keine Musik. Fehlt sie? Letztlich ist es schön, daß diese Geschichte nicht mit Tönen so zugekleistert wurde, wie die Berlinale in diesem Jahr mit großen Stars. Die Geschichten sind wichtiger, die Filme und ihre Schicksale.