von Fritz Klein
Immer führt neue Gegenwart zu neuem Blick auf die Vergangenheit. Nicht Denunziation, sondern Feststellung eines Sachverhalts hatte Michael Jeismann im Sinn, als er diesen Zusammenhang in einem Essay Auf Wiedersehen gestern auf die provozierende Formel brachte, Historiker arbeiteten am Bild einer »gebrauchsfähigen Vergangenheit«.
Das Neue unserer Gegenwart, das Historiker dazu veranlaßt, darüber nachzudenken, wie sie ihm in ihrer Arbeit gerecht werden können, ist der weltverändernde Vorgang der Globalisierung. Der Leipziger Historiker Matthias Middell hat in mehrjähriger, überaus gründlicher Forschungsarbeit ein Kapitel deutscher Geschichtswissenschaft aufgearbeitet, dessen Protagonisten, im Unterschied, ja Gegensatz zu den meisten ihrer Kollegen, Wege beschritten und Ideen entwickelten, die in diese heute so aktuelle Richtung wiesen. An der Geschichte des 1909 an der Universität Leipzig von Karl Lamprecht gegründeten Instituts für Kultur- und Universalgeschichte, das im Zuge der 2. Hochschulreform der DDR 1951 formell aufgelöst, in seinen Intentionen aber in verschiedenen institutionellen Formen an der Karl-Marx-Universität Leipzig bis zur »Abwicklung« fortgesetzt wurde, macht Middell einen Prozeß der Verfachlichung und Professionalisierung von Weltgeschichtsschreibung aus, den er in souveräner Beherrschung der internationalen Literatur und eines kaum übersehbaren Quellenmaterials schildert.
In drei Bänden legt er ein Ergebnis vor, das durch Fakten- wie Gedankenreichtum besticht. In allen Einzelheiten wird die Geschichte des untersuchten Universitätsinstituts nuanciert und facettenreich dargestellt, zugleich aber in seinem Verhältnis zu anderen Instituten nicht nur der eigenen Universität gezeigt, so daß sich ein sehr instruktiver Beitrag zur Entwicklung der universitären Geschichtswissenschaft im Ganzen ergibt. Fünf bedeutende Historiker standen an der Spitze des Instituts: Karl Lamprecht, Gründer und Direktor bis zu einem Tode 1915, Walter Goetz bis zu seiner Emeritierung 1932, der Lamprecht-Schüler und Soziologe Hans Freyer bis 1947, Walter Markov bis zur Auflösung des Instituts 1951, dessen Tradition er in der Abteilung Neuzeit des Instituts für Allgemeine Geschichte bis 1969/74 fortführte, gefolgt von seinem Schüler Manfred Kossok im Wissenschaftsbereich Allgemeine Geschichte der Neuzeit bis 1992.
Sie alle waren überaus produktive Forscher. Ein umfangreiches, keineswegs vollständiges Verzeichnis ihrer Schriften im Anhang legt davon Zeugnis ab. Vielfältig war die mehr oder weniger direkte, bewußte oder unbewußte Beziehung ihres geschichtswissenschaftlichen Tuns zur jeweiligen Gegenwart, an der sie sich rieben, die sie beeinflußte und die sie zu beeinflussen suchten. Gegenwartsorientiert waren die Alternativen zum traditionellen Normalbetrieb von Geschichtswissenschaft, für die sich Lamprecht an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einsetzte. Wütend bekämpft von der Mehrheit der Zunftgenossen, legte er Arbeiten zur deutschen Geschichte vor, die wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte so stark in den Vordergrund rückten, daß Franz Mehring ihn als Mitstreiter des historischen Materialismus lobte, wofür sein lautester Gegner Georg von Below ihn tadelte. Beide irrten. Deutsche Weltpolitik wurde zum Schlagwort, nachdem Deutschland an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in den Kreis der alten Kolonialmächte eingetreten war. Lamprecht war nicht der einzige Historiker, der sich in dieser Umwelt verstärkt der Welt- oder Universalgeschichte zuwandte. Aber er tat es am konsequentesten. Unter Universalgeschichte verstehe er »die Gesamtgeschichte der menschlichen Kulturentwicklung«, formulierte er 1905 seinen Standpunkt in der Auseinandersetzung mit seinem Kollegen Erich Brandenburg, der sie etwa definiere als »politische Geschichte Europas und der mittelmeerischen Staatenwelt«. Bei einem Gelehrtenstreit um Definitionen ließ der nicht nur produktive Forscher, sondern auch umtriebige Wissenschaftsorganisator Lamprecht es nicht bewenden.
Überzeugt von der Notwendigkeit einer festen institutionellen Basis zur Durchsetzung seiner Ideen, setzte er gegen mannigfache Widerstände im Jahre 1909 die Gründung seines Instituts für Kultur- und Universalgeschichte als zweites historisches Institut an der Leipziger Universität durch. Minutiös untersucht Middell die vieldiskutierte Frage nach den Motiven, die Lamprecht bewogen, in den letzten Jahren vor dem Weltkrieg den Kontakt zu Reichskanzler Bethmann-Hollweg zu suchen, um diesen für eine auf auswärtige Kulturpolitik orientierte deutsche Weltpolitik zu gewinnen.
Direkter als Lamprecht sah sich sein Nachfolger Walter Goetz als politischer Historiker. Nachdem er schon 1917 mit einer öffentlichen Stellungnahme für einen Verständigungsfrieden gegen die Durchhalteparolen der Obersten Heeresleitung hervorgetreten war, gehörte er in der Weimarer Republik zu den wenigen Historikern, die die Republik bejahten, saß als liberaler Abgeordneter auch im Reichstag. Das Institut leitete er eher als Mann des Ausgleichs als der schroffen Entgegensetzung, die Lamprecht ausgezeichnet hatte. Ausdrücklich betonte Goetz bei der Werbung von Mitarbeitern der von ihm herausgegebenen Propyläen-Weltgeschichte seinen Wunsch, Anhänger des neuen Staates und damit des Verständigungsgedankens heranzuziehen, zu einem Werk, das in der durch kulturgeschichtliche Klammer zusammengehaltenen Weltgeschichte das »aktuelle Zusammenwachsen der lange getrennten Völker und Kulturkreise zu einer immer stärkeren wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Einheit« abbilden solle.
Auf den 1932 emeritierten Walter Goetz folgte der schillernde Hans Freyer. Dieser hatte 1931 in einer Schrift Revolution von rechts den Nationalsozialismus als Ausdruck einer neuen politischen und sozialen Bewegung gedeutet, die das überholte System des liberal-demokratisch verfaßten Kapitalismus überwinden werde. Er begrüßte die »Machtübernahme« im Januar 1933, trat öffentlich für die Ziele der neuen Regierung ein, bei zunehmend wacher Distanz zu der parteibürokratischen Gewalt- und Ideologieherrschaft der NSDAP, deren Mitglied er nie wurde. 1938 entzog er sich den mannigfachen Turbulenzen und Querelen im akademischen Betrieb Hitlerdeutschlands durch Übernahme einer Gastprofessur für deutsche Kulturgeschichte an der Universität Budapest, die er bis 1944 wahrnahm, nicht ohne auch dort Propagandareden für eine Neuordnung Europas unter deutscher Führung zu halten. Wissenschaftliche Frucht der Budapester Jahre war eine tausend Seiten umfassende Weltgeschichte Europas, die 1948 in Wiesbaden erschien.
Freyer wurde wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus 1948 entlassen. Ihm folgte Walter Markov. Geboren 1909 in Graz als Sohn eines kaufmännischen Angestellten slowenischer Nationalität aus der Steiermark und einer Wienerin, deren Familie aus Sachsen stammte, aufgewachsen nach dem Krieg in Jugoslawien, Student der Geschichte an verschiedenen deutschen Universitäten 1928 bis 19 34, war Markov durch Herkunft und Lebenslauf internationalistisch eingestellt. Er promovierte 1934 in Bonn bei Fritz Kern, der sich 1915 in Leipzig vergeblich um die Nachfolge Lamprechts bemüht hatte.
Der jugoslawische Staatsbürger Dr. Markov hätte Deutschland verlassen können, blieb aber, weil er meinte, etwas tun zu sollen gegen den schlimmen Gang der Dinge. Er gründete eine kleine Widerstandsgruppe an der Bonner Universität und schloß sich der KPD an, für ihn die aktivste politische Kraft gegen den Faschismus. Die Gruppe flog auf; Markov wurde 1936 wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens zu einer Zuchthausstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Nach der Befreiung 1945 ging er von Bonn, wo für den Kommunisten Markov eine Universitätslaufbahn nicht in Frage kam, in die SBZ, habilitierte sich 1947 in Leipzig und wurde zum Direktor des Lamprecht-Instituts berufen. Engagiert sah sich Markov in der Nachfolge Lamprechts, an dessen universalhistorische Sicht er anknüpfte. Einige Jahre hindurch hatte er gegen beträchtliche politische Hindernisse anzugehen. Mißtrauisch beäugt von dogmatischen Eiferern trat er für einen unorthodoxen Marxismus ein, dessen alleinige Vorherrschaft er ablehnte, wurde prinzipienloser Haltung gegenüber der bürgerlichen Wissenschaft bezichtigt, 1951 als Titoist, der die Probleme des Klassenkampfes verwische, aus der Partei ausgeschlossen.
Eine paradoxe Wirkung dieser Widerstände bestand darin, daß er in die Richtung fast gedrängt wurde, die er selber anstrebte: die Orientierung auf Themen der allgemeinen Geschichte, die dem DDR-offiziellen Geschichtsbetrieb eher fernlagen. Revolutionsgeschichte mit dem Schwerpunkt Französische Revolution, vergleichende Geschichte des Kolonialismus waren Gebiete, auf denen er wichtige Projekte im Institut anregte und sich selber durch herausragende Forschungen eine internationale Reputation erwarb, die auch seine Position in der Geschichtswissenschaft der DDR auf Dauer befestigte.
Weltgeschichte im Revolutionsquadrat war der Titel eines Bandes mit einschlägigen Veröffentlichungen Markovs, den sein Schüler Manfred Kossok 1979 herausgab. Eine Grundintention Markovs war damit benannt, die Kossok, Spezialist für die Geschichte Spaniens und Lateinamerikas, in einem übergreifenden Projekt zur vergleichenden Revolutionsgeschichte zu befestigen trachtete, ein spezieller universalgeschichtlicher Ansatz, der undogmatisch und quellengestützt angelegt, sich auf Lamprecht berufen konnte. Gehemmt immer wieder durch die Enge marxistisch-leninistischer Geschichtsdogmatik, wirkte so die 1909 begonnene Tradition bis zum Ende der DDR. Es ist das Verdienst des Autors, Kontinuitäten und Diskontinuitäten in einem wechselvollen Prozeß dargestellt zu haben. Middell bietet keine Rezepte. Was er vorführt, ist das reiche Panorama von hundert Jahren institutioneller und gedanklicher Bemühungen um Weltgeschichtsschreibung, überaus anregende Fundgrube für Historiker-Überlegungen im Zeitalter der Globalisierung.
Matthias Middell: Weltgeschichtsschreibung im Zeitalter der Verfachlichung und Professionalisierung. Das Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte 1890-1990, 3 Bde., Akademische Verlagsanstalt, Leipzig, 1270 Seiten, 98 Euro
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