von Erhard Crome
Der größte Feind der Demokratie ist in der Gegenwart die kapitalistische Globalisierung. Obwohl liberale Kapitalwirtschaft und Demokratie aus der gleichen Kinderstube der bürgerlichen Gesellschaft kommen, ist Kain jetzt dabei, Abel zu erschlagen, ohne dadurch der unsteten Rastlosigkeit seines Umherirrens entkommen zu können. Das könnte man als das Fazit der umfänglichen Studie von Helmut Friessner ansehen.
Gewiß, wer die einschlägige, kaum noch zu überschauende Literatur zum Thema Globalisierungskritik kennt, muß zunächst der Vorbemerkung des Autors zustimmen, daß seine Arbeit »nichts gänzlich Unbekanntes an den Tag« bringe und dennoch »eine neue Sicht auf die Problemlage« ermögliche. Sammelbände, in denen die üblichen Experten das wiederholen, was sie schon immer gesagt und geschrieben haben, will man oft nicht mehr zur Hand nehmen; sie bieten in der Regel keine neue Sicht. Demgegenüber enthält eine gut geschriebene Monographie oft interessante Anregungen, auch wenn sie vielleicht über einzelne Stellen streiten ließe. Mit einem solchen Buch haben wir es hier zu tun.
Oft sind es Seiteneinsteiger, die komplizierte Sachverhalte und Zusammenhänge besonders faßlich beschreiben. Hier tritt uns ein Mann gegenüber, der von Hause aus Jurist und Philosoph ist. Methodisch geht er davon aus, daß zur Analyse der Globalisierung ein Expertenwissen aus Ökonomie, Politikwissenschaft, Sozialwissenschaften, Rechtswissenschaft, Informatik, Kultur oder Ethnologie jeweils wichtig sei, aber nicht genüge. Erforderlich seien eine interdisziplinäre Sichtweise und ein, philosophisch gestütztes, radikales Befragen des Festgelegten, Bestimmten, Entschiedenen. Das wird konsequent eingelöst. Texte vieler wichtiger Autoren wurden systematisch ausgewertet. Das Buch kann durchaus auch als Einführung in die Globalisierungskritik empfohlen werden.
Im ersten Teil werden der Wandel der Weltwirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg (Von Bretton Woods zur WTO) beschrieben, das zunächst gescheiterte Multilaterale Investitionsabkommen (MAI) erläutert – das durch die Hintertür der weiteren WTO-Verhandlungen wieder hereingelassen werden soll – und das »GATS«-Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen erklärt. Hier sehen die Globalisierungsagenturen wie die Weltbank durch die Privatisierung bisher nicht privatkapitalistisch organisierter Leistungen gewaltige Kuchen, die verteilt werden sollen: Allein bei der Wasserversorgung sind es weltweit jährlich 800 Milliarden, im »Bildungsmarkt« 2000 Milliarden und im »Gesundheitsmarkt« 3500 Milliarden US-Dollar.
Die Europäische Union, einst aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges entstanden, wurde mit den Verträgen von Maastricht und Amsterdam in den 1990er Jahren im Sinne des Neoliberalismus »reformuliert«. Die »Liberalisierungspolitik« bilde den Kern der Integration; die Härte der EU-Kommission in ihrem Vorgehen gegen die öffentlichen Unternehmen allerdings sei nicht denkbar ohne das Einverständnis der Mitgliedsstaaten, auch wenn diese zu Hause etwas anderes behaupteten.
Das aber ist das Kernproblem der sogenannten Globalisierung: der Abbau der Demokratie. Friessner verweist auf ein Demonstrationsplakat: Die wir gewählt haben, haben keine Macht – die die Macht haben, haben wir nicht gewählt. Es findet eine Auflösung der alten Sozial- und Beziehungsstrukturen statt, es zerbersten die Verbindungen zwischen den Generationen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, und in den »fortgeschrittensten« Staaten des Kapitalismus dominiere – hier wird der Historiker Hobsbawm zitiert – ein »absolut asozialer Individualismus«. Aus dem Bürger, der Träger sozialer Rechte war, werde ein individualisierter Käufer von Waren und Dienstleistungen, je nach Zahlungsfähigkeit.
Der Sinn von GATS und WTO ist das Auf-Dauer-Stellen der Privatisierung. Nachdem die nationalen Parlamente zugestimmt haben, sollen sie über keinerlei Mitsprache mehr verfügen. Es ist eine »völkerrechtliche Jahrhundertverpflichtung«, die »ein Gesellschaftsprinzip auf Dauer stellt«. Re-Kommunalisierung oder neuerliche Verstaatlichungen sollen unmöglich gemacht werden. WTO-Recht – oder auch das der EU – bricht nationales Recht.
Friessner identifiziert eine »Zangenbewegung«: »Zum einen lassen sich auf internationaler Ebene Kräfte lokalisieren, die direkt von außen auf das Angriffsziel Nationalstaat, aber auch auf sonstige Ausformungen des Gemeinwesens wie etwa Kommunen gerichtet sind (wir haben sie bereits identifiziert: WTO, GATS, IMF, Weltbank, EU und andere); zum anderen findet der Angriff auf das demokratische Spektrum gleichsam aus dem Inneren heraus statt – es sind die Phänomene der Konkurrenz, der Konsumkultur, der Geldlogik, des Individualismus u.a.m., die die bereits existierenden Gemeinschaften zersetzen oder aber die Bildung autonomer Gesellschaften verhindern.«
Demokratietheoretisch müsse davon ausgegangen werden, so Friessner, daß die Volkssouveränität auf eine kollektive Selbststeuerung hinauslaufe, die ohne fremdbestimmte Entscheidungsanteile erfolgt; das demokratische Institutionengebäude kann in diesem Sinne nichts anderes sein als eine »reine, wertneutrale Plattform für die Erarbeitung von Entscheidungen«. So ließe sich »der demokratische Anspruch der Teilhabe aller am politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß (über das alle betreffende Allgemeine, das Gemeinwohl) substantiell sichern«. Im Zuge der Globalisierung findet jedoch der gegenläufige Prozeß statt: »Die entgrenzte Wirtschaft emanzipiert sich vollends vom Feld des Politischen und degradiert das politische System, das sich nicht länger als substantiell demokratisch erweist, zu einem Marionettenspiel.«
Letzteres relativiert der Autor am Ende wieder selbst und verweist auf unterschiedliche Maßnahmen bereits innerhalb des bestehenden Systems: beginnend mit der Vermögenssteuer, dem Erbrecht, dem Stiftungsrecht, weiter den Überlegungen zu einem Grundeinkommen, der Verankerung eines Grundrechts auf Wohnung und so weiter. Im Kern geht es um die Emanzipation »vom unverbrüchlichen und vollständigen Schutz des Privateigentums«, um »das nachbürgerliche Zeitalter einzuleiten«.
Helmut Friessner: Demokratie im Fadenkreuz. Die Attacken der Weltwirtschaft auf die demokratische Ordnung, Promedia Verlag Wien, 344 Seiten, 21,90 Euro
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