von Walter Thomas Heyn
Ehrenbürger von Berlin soll er nach dem Willen der CDU werden, der Politbarde Biermann, Vorname Wolf, der furchtlose Kämpfer gegen das Stasi-System, die Ur-Sünde der DDR-Bonzen, der ewig losziehende und losklampfende Dagegen-Seiende, das tapfere Wolfilein im Kampf gegen die Riesen. Nein, er soll nicht Ehrenbürger sein, riefen anfangs SPD- und PDS-Fraktionelle, zu links, zu eindeutig, zu mehrdeutig, nicht links genug, und überhaupt zu viel Ehre für einen zu kleinen Geist, zu wenig Kunst, zu viel Politik und so weiter, und alles noch mal von vorne und noch mal rum und num – Berliner Kulturpolitik eben, man kennt sie nicht anders: anmaßend und geltungssüchtig und dabei krämerhaft kleinlich. Am Ende haben die einen dann doch zugestimmt und die anderen sich enthalten.
Vor ein paar Wochen konnte man Biermann einen ganzen Abend in der Glotze bewundern: altersweise, altersmüde, listig und angriffslustig wie eh und je, aber auch zusammengesunken, rundlich – das Fernsehen feiert den »Drachentöter wider Willen« Wolf Biermann, und der feiert den dreißigsten Jahrestag seiner Ausbürgerung. Das Ausbürgern möge sich nicht einbürgern, riet damals Stefan Heym der Regierung in einem offenen Brief. Es ist anders gekommen.
Dreißig Jahre später: Lange Kamerafahrten zeigen den Dichter redend. Zu bewundern ist der funkelnde Witz, die geballte Kunst der Dialektik, jeden Satz sofort zu relativieren, Alternativen anzudeuten, scheinbar unverrückbare »Wahrheiten« mit einem Lächeln, einer Andeutung anzuzweifeln.
Vor dreißig Jahren gehörte ich zu seinen Jüngern. Das war die Zeit der Singeclubs, der Texterbuden und Liedermacher. Eine gar nicht so dumpfrote Zeit, wie man heute glaubt, eher offen, eher liberal, zumindestens in der Kunst. Im VEB Buntgarnwerk wird das anders gewesen sein. Dort rabottete ja nur die herrschende Klasse. Unser Gott hieß nicht Alfred Hennecke, sondern Manfred Krug, doch einige hatten auch immer Lieder von Biermann dabei oder Tonbänder, die auf Jupiter- oder Tesla-Geräten spätabends abgespielt wurden. Das heimliche Gebet und Stoßgebet der Oma Moise Lieber Gott, laß doch den Kommunismus siegen oder unsere Lieblingshymne So oder so, die Erde wird rot kursierte. »Meine Mutter wollte aus mir einen kleinen Kommunisten machen, der die Welt rettet, und ich wollte ihr diesen kleinen Gefallen tun«, schmunzelt Biermann im Fernsehen.
Auch ich schrieb nächtelang etwa zwanzig Biermanntexte mit der Hand ab. Die Musik hörte ich taktweise vom Tonband runter, so daß in Leipzig danach »ordentliches« Notenmaterial mit den richtigen Griffen drüber zu haben war.
»Auf dem Gebiet des Dichtens bin ich ein hochgebildeter Nicht-Dichter, auf dem Gebiet der Musik ein ungebildeter Alleskönner« meint Biermann in der Glotze zu sich selbst.
Beide Lieder hörte ich wieder am 19. November in der langen Biermann-Nacht, das »Gebet der Oma Moise« in einer Übertragung aus Hamburg, gesungen in einer so schmerzhaft intensiven und zugleich liebevoll humorigen Art, daß es mich überläuft und ich mich zum zigtausendsten Male frage, warum eigentlich hat denn der Kommunismus nicht gesiegt, wenn er denn solche Propheten hatte?
Die Antwort gibt Biermann selber, denn das Fernsehen wiederholte das legendäre Konzert bei der IG Metall in Essen 1976, dem vorgeschobenen Grund der Ausbürgerung. In dem Lied So oder so, die Erde wird rot besteht der Refrain aus drei sich steigernden Verszeilen: »so soll es sein, so muß es sein, so wird es sein«. Und diese Zeilen haben von Biermann eine Musik bekommen, die genau das Gegenteil des Textes aussagt. Nach einer kräftigen Dominante wird leuchtendes C-Dur erreicht, die zweite Zeile wiederholt das Ganze in tieferem Moll, die dritte Zeile wird von einer nahezu kraftlosen harmonischen Wendung aus einer alten Kirchentonart begleitet. Dazu fällt die Gesangstimme um eine Oktave. Das hat die dialektische Dimension von Brecht/Eisler, und es war mir vorher nie aufgefallen und stimmte mich traurig.
1974 wurden wir jungen Leute aus den Leipziger Singeclubs von der Bezirksleitung der FDJ gefragt, wie wir denn dächten, wie sie mit diesem Biermann umzugehen hätten. Unsere Flötistin, die nebenher in einem Verlag arbeitete, schlug vor, alles in kleiner Auflage zu drucken, dann wäre der Dichter zufrieden, die Künstlerkollegen würden das kaufen, und die Arbeiter täte so etwas sowieso nicht interessieren. Wir anderen waren der Meinung, Biermann ins westliche Ausland auf Tournee zu schicken, denn einen besseren Botschafter fürs Ländle konnten wir uns nicht vorstellen. Wir wurden seltsam angesehen und heimgeschickt.
Zwei Jahre später kam es zum Eklat, genannt Ausbürgerung. Wir wurden wieder einbestellt, was wir denn nun zum »Vorgang« meinten. »Vorher kannte ihn keiner, jetzt kennt ihn jeder« sagte die Flötistin, die mittlerweile zwei Kinder hatte und das Wort Mutterschutz geschickt für sich in Anspruch nahm. Ihr geschah nichts. Der zweite Gitarrist Tommy, Arbeiterkind, knallrot, Offiziersanwärter, sagte: »Das ist euer Ende«. Er sagte nicht mehr »unser«, sondern »euer«, spielte also offenkundig nicht mehr mit. Eine Woche später war er arbeitslos, obwohl man in der DDR nicht arbeitslos sein konnte. Die Sängerin brachte ihn in der Sternburgbrauerei Lützschena als Bierkutscher unter. Drei Jahre später erhängt er sich. »Heute sagt jeder Dummkopf, was das doch damals für Dummköpfe gewesen seien«, kommentiert Biermann und meint die Staaten, die laut Böll »sehr oft Dummheiten machen«.
Meine Lippen blieben damals geschlossen. Für mich war das ein Spiel: Katze-Maus-David-Goliath-König-Hofnarr. Antizyklisch hatte eben mal der Hofnarr gewonnen, ich fand es eher lustig. Drei Tage später erschien die Sängerin bei meiner Mutter – ich wohnte noch zu Hause – und bewog sie, ihr die mühsam abgeschriebenen Biermann-Lieder zu borgen. Alle! Ich bekam sie nie wieder. In der Akte las ich später, daß sie im Auftrag gehandelt hatte. Genaugenommen hat sie mir geholfen: Das Beweismaterial war weg. Ich konnte studieren.
»Dann bin ich nach Osten«, sagt Biermann im Interview, »und habe mich gewundert, wie viele mir entgegenkamen.« Und er zitiert seinen Vater, der zu ihm gesagt hat: »Ich habe mein Leben aufs Spiel gesetzt, da kannst du doch dein Wohlleben aufs Spiel setzen. Laß dich nicht einschüchtern, kleiner Wolf.« Da kroch die Scham dann doch meinen Rücken hoch. Die Musik spielt überall. Und ich war kein Held.
Alle Biermann-Zitate stammen aus Fernsehsendungen des NDR vom 19. November 2006
Schlagwörter: Walter Thomas Heyn, Wolf Biermann