von Kai Agthe
120000 Zettel für einen großen Traum. Zettels Traum, so heißt das 1334 Manuskriptseiten umfassende und 1970 als Faksimile publizierte Spätwerk des literarischen Eigenbrötlers Arno Schmidt (1914-1979), der dem Leser mit seiner ebenso berühmten wie auch berüchtigten phonetischen Schreibweise viel Ausdauer abverlangt. Nach Erscheinen von Zettels Traum wurde gar ein »Arno-Schmidt-Dechiffrier-Syndikat« ins Leben gerufen, um dem Detail- und Anspielungsreichtum auf die Spur zu kommen.
In der Zeit, da er an dem Riesenwerk bosselte, hatte er der Welt vollkommen entsagt. Schmidts leidensfähige Gattin Alice gab nach dem Tod ihres Mannes zu Protokoll, sie habe es nicht gern gesehen, daß er an Zettels Traum schrieb: »Kein Spaziergang mehr – kein Sitzen im Garten – kein Sonntag – kaum die Möglichkeit eines Gesprächs …« Diese zu Herzen gehende Jeremiade zitiert Bernd Erhard Fischer in dem Bändchen Arno Schmidt in Bargfeld, der neuesten Publikation innerhalb der bibliophil gestalteten und reich illustrierten Reihe Menschen und Orte der Edition A. B. Fischer.
Zettels Traum war das Ergebnis »einer jahrelangen Selbstisolation«. Schmidt, der sich ein »Gehirntier« nannte, lebte vor allem mit und in seiner Textsammlung, den Zettelkästen, in denen er Gedanken und Zitate als Bausteine für seine Bücher sammelte und systematisierte. Zettelkästen, das klingt irgendwie nach Buchhalter. Diesen Beruf hat Arno Schmidt in der Tat auch erlernt und praktiziert, bis ihn der Weltkrieg in die Uniform und zum Kriegsdienst zwang.
Von beidem befreit, führte er nach 1945 mit Alice, mit der er seit 1937 verheiratet war, bis zur Abschottung in Bargfeld ein unstetes Dasein. Sein erstes Buch Leviathan erschien bereits 1949. Mit seinem Debüt wurde Schmidt ein Autor für Eingeweihte. Daß sein Name 1955 weiten Kreisen bekannt wurde, lag an einem gegen ihn eingeleiteten Verfahren wegen Pornographie und Gotteslästerung nach der Veröffentlichung von Seestück mit Pocahontas. Bis ihn die renommierten Literaturpreise erreichten, war Schmidt auch ein Schriftsteller, der von der Hand in den Mund lebte. Ein Grund dafür war seine Weigerung, ein Teil dessen zu werden, was man »Literaturbetrieb« nennt. So ist verbürgt, daß er nur einmal öffentlich las. Kurz: Schmidt war eigenwillig bis zur Misanthropie. Die erste und die letzte Porträtaufnahme macht das deutlich: Der stark kurzsichtige fünfjährige Arno blickt ohne Brille so ernst und skeptisch, ja angewidert in die Welt wie der sechzigjährige Schmidt mit seiner starken Sehhilfe.
Seit 1958 wohnten die Schmidts inmitten der niedersächsischen Heide. Das Häuschen bei Bargfeld, das sich das Ehepaar mit Tausenden Büchern und mehreren Katzen teilte, war mehr als nur ein Katzensprung von der Stadt Celle entfernt. Denn Einsamkeit war des Dichters Begehr. Hier fand er sie. Daß dieses eigenwillige literarische Werk nur Gestalt annehmen konnte durch die Abkehr von der Welt und ihren Verlockungen, erschien seinem Schöpfer akzeptabel. Daß sein Verhalten bald merkwürdig-kauzige Züge annahm, verwundert nicht. Schon früh formulierte Arno Schmidt sein Credo: »Man muß sich entscheiden, ob man leben will oder ein Werk schaffen.« Für ihn zählte nur letzteres. Um sich das abringen zu können, brauchte er Dopingmittel: Kaffee und Schnaps. In Maßen wohl, dafür aber täglich.
Arno Schmidt in Bargfeld ist, ähnlich wie die acht bislang in der Reihe Menschen und Orte erschienenen Broschüren, eine faktenreiche und gut lesbare Einführung zu Leben und Werk Arno Schmidts. An Skurrilität ist das eine wie das andere kaum zu übertreffen. Um an beides zu erinnern, gründete Mäzen Jan Philipp Reemtsma 1981 die Arno-Schmidt-Stiftung. So konnte der Nachlaß des Autors, der »an seiner Verschlossenheit scheiterte« (Werner Helwig), bewahrt und in den vergangenen Jahrzehnten sukzessive aufbereitet werden.
Bernd Erhard Fischer: Arno Schmidt in Bargfeld. »Menschen und Orte«. Mit Fotografien von Angelika Fischer, Edition A. B. Fischer Berlin 2006, 31 Seiten, 6 Euro
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