von Wladislaw Hedeler, z. Z. Moskau
Sie sind wieder da. Wie andernorts auch führt an den Moskauer Consiergen und Portiers, die alle Mieter kennen und niemanden passieren lassen, der nicht angemeldet ist, kein Weg vorbei. Sicherheit wird wieder groß geschrieben. Sogar in den Eingängen zu gewöhnlichen Mietshäusern finden sich Verschläge für die Kontrolleure. Wo es dafür keinen Platz gibt oder das Geld nicht reicht, um einen Aufpasser zu bezahlen, müssen in der Regel bis zu drei, mit unterschiedlichen Schlössern und Schließvorrichtungen gesicherte Türen passiert werden, um bis zu einer Wohnung vorzudringen. Wer von Moskauern eingeladen wird, sollte nach der Bedienungsanleitung, die in keinem Reiseführer zu finden ist, fragen. »Ihr Heim beginnt an der Wohnungstür«, wirbt eine Firma für Sicherheitstüren aller Art in der Moskauer Metro. Die Eingangstüren zu den Wohnungen aller meiner Moskauer Bekannten sind aus massivem Holz, zum Teil mit Stahlblech verkleidet. Auch die Flurtüren im Treppenhaus sind fest verschlossen. Da Wechselsprechanlagen selten sind, empfiehlt es sich, vorher anzurufen, nach den sich immer wieder ändernden Zahlenkombinationen zu fragen und sich den gerade aktuellen und gangbaren Weg erklären zu lassen.
Wer schon einmal im Moskauer Straßengewirr unterwegs war, weiß, wovon die Rede ist. Immer wieder müssen Zäune, Baustellen und Garagen umgangen werden. In der Stadt ist es nicht anders als auf dem Lande, nicht die Straßen sind entscheidend, sondern die Richtung muß stimmen. Daß diese Volksweisheit nach wie vor aktuell ist, stellte sich bei der Suche nach dem Eingang zum Museum im einstigen Haus der Regierung, dem von Juri Trifonow im gleichnamigen Roman beschriebenen Haus in der Uferstraße, heraus. Über die 2004 eingeweihte Patriarchenbrücke, die von der Erlöserkathedrale zur Kirche auf dem gegenüberliegenden Moskwaufer führt, ist der graue Bau bequem von der Metrostation Kropotkinskaja zu erreichen. Von der Brücke aus hat man zudem einen schönen Blick auf den Kreml, die Schokoladenfabrik »Roter Oktober« und die Denkmäler für Peter den Großen und Alexander II. An den Wochenenden halten hier die Hochzeitskutschen zum obligatorischen Fototermin.
Der Eingang zum Museum im einstigen Haus der Regierung, untergebracht in der Portierwohnung im ersten Aufgang des ausgedehnten Gebäudekomplexes, ist nur vom Hof aus zu erreichen. Das trifft auch für fünfzehn der insgesamt 24 Aufgänge des Hauses an der Uferstraße zu. Ihre Zählung ist nicht fortlaufend, eine Aufgangsnummer ist ausgelassen, und es gibt, was die Suche nach dem richtigen Aufgang zusätzlich erschwert, auch noch drei Innenhöfe. Gott sei Dank stehen einige der Gittertore offen, denn die Belieferung der Post, der Wäscherei und des Supermarktes erfolgt vom Hof aus. So freizügig ging es hier nicht immer zu. Unter den Exponaten des Museums befinden sich die in den dreißiger Jahren für den Zugang zu den Höfen erforderlichen Passierscheine.
Jurij Trifonow hat diesen gedrungenen, unförmig langen Gebäudekomplex, das »riesige graue Haus mit tausend Fenstern, das wie eine ganze Stadt oder gar wie ein ganzes Land war« in genannten Roman beschrieben. Er wohnte mit seinen Eltern in einem der sieben von Boris Iofan entworfenen Wohnhäuser, die über ein eigenes Heizkraftwerk, ein der Kremlverwaltung unterstehendes Ambulatorium, eine Telefonzentrale, einen Kindergarten, eine Wäscherei und das Kino Udarnik verfügten. Heute erinnern 29 Gedenktafeln an die prominentesten Mieter des Hauses. In den 505 Wohnungen lebten in den dreißiger Jahren über 2500 Mieter.
Dank der Arbeit der Mitarbeiterinnen des Museums lassen sich die Lebenswege von annähernd 800 Hauptmietern und deren Ehepartnern beziehungsweise Kindern nachzeichnen. Über 350 der Mieter wurden in den Jahren des Terrors erschossen, an die fünfzig Frauen als Angehörige von »Verrätern an der Heimat« zu Zwangsarbeit in den sogenannten Besserungsarbeitslagern verurteilt. Trifonow hat einen weiteren seiner Romane, dessen Handlung im Haus der Regierung spielt, nicht zufällig mit Das Verschwinden überschrieben. Die Einweisung der Kinder Verhafteter in Kinderheime des NKWD spiegelt die Terrorlogik ebenso wider wie die Einrichtung von Lagern für Angehörige von »Verrätern an der Heimat«. Belegt ist, daß Kinder aus 44 Familien, die im Haus in der Uferstraße wohnten, in Kinderheime eingewiesen wurden.
»Die Anordnung der Räume in den Wohnungen«, erinnert sich Aino Kuusinen, die zusammen mit ihrem Mann zu den ersten Mietern gehörte, »war zwar etwas unpraktisch, aber für Sowjetverhältnisse waren sie das beste, was man bekommen konnte, große Zimmer und zwei Balkons. Sogar die Aufzüge waren meistens in Ordnung, was in Moskau reinen Luxus bedeutete. Unsere Nachbarn waren der damalige Ministerpräsident Rykow und seine Familie. Im siebenten Stock wohnte die Tochter eines Petersburger Aristokraten, Helena Stassowa, mit der Lenin befreundet war. Auch Bucharin und Radek lebten eine Zeitlang in diesem Haus.«
Auf den Fluren war so viel Platz, daß die Kinder Fahrrad fahren konnten, in den Zimmern hingen Kronleuchter, und im Salon fanden bis zu fünfzig Personen Platz. Die Möbel im Stil des Konstruktivismus waren staatseigen und gehörten wie die Einbauschränke, die verglasten Bücherregale und der Parkettfußboden zur Standardeinrichtung. Die rötlichen Wände sahen wie mit Seide verkleidet aus, andere waren Säulenhallen nachempfunden. Die Decken waren – ebenso wie die Küchen – bemalt, die Möbel funktional. Es gab Müllschlucker und Lastenaufzüge. »Dort, in den himmelhoch gelegenen Stockwerken, schien sich ein völlig anderes Leben abzuspielen, als unten, in den gemäß hundertjähriger Tradition gelb getünchten engen Häusern.« Besucher mußten dem Fahrstuhlführer Namen und Wohnungsnummer der Mieter nennen, manchmal rief er in der Wohnung an und erkundigte sich, ob der Besuch auch wirklich erwartet wurde.
Der Terror bedeutete das Ende – sowohl für die Mieter als auch für das Gebäude, das seinen Status verlor. »Das alte Haus war gestorben«, leitet Trifonow seinen Roman Das Verschwinden ein. »Wer aus diesem Haus auszog, hörte auf zu existieren.« Nachweislich verschwanden innerhalb kurzer Zeit Bewohner aus 345 der 505 Wohnungen. Zwei Mieter wurden in Butowo und 123 in Kommunarka erschossen und verscharrt, die Asche von 114 auf dem Donskoe Friedhof unweit des Krematoriums verstreut.
Heute wohnen nur noch wenige der hier Aufgewachsenen im Haus, auf dessen Hof die Lieferwagen und die Autos der Anwohner kaum Platz finden. Wo in den dreißiger Jahren die Springbrunnen standen, sind heute Spielplätze. Ein Ruheplatz für die Alten. In den Abendstunden gehören die Spielplätze Rudeln streunender Hunde. Vorbeifahrende Lastautos lösen hin und wieder die Alarmanlagen der hier geparkten Autos aus. Dann jaulen sie mit den Hunden um die Wette.
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