von Jens Knorr
Nichts ist unwahrer als die Behauptung, Armut sei sexy. Weder die Armut der Städte noch die der Menschen ist es und der Slogan Arm, aber sexy eine Verhöhnung der Menschen in den Städten.
»Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit« hat Ödön von Horváth sein Volksstück Geschichten aus dem Wiener Wald überschrieben und dabei die Sprache der Armen verwendet. Marianne die Tochter des Zauberkönigs, Inhaber eines Ladens für Scherzartikel, schließt und löst bei einem Ausflug in den Wiener Wald ihre Verlobung mit dem Fleischhauer Oskar, verläßt Vater und Bräutigam und folgt dem Nichtstuer Alfred, bekommt ein Wunschkind von ihm, mit dem er sie sitzen läßt, prostituiert sich, wird wegen versuchten Diebstahls in Haft genommen und nach ihrer Entlassung vom Vater wieder aufgenommen. Inzwischen hat die Großmutter den Bankert, den sie in Pflege hatte, ermordet. Der Hochzeit Mariannes und Oskars steht nun nichts mehr im Weg.
Nichtsnutzige, Überflüssige sind sie alle mit ihrem kleinen einen oder keinen Gewerbe, Menschen ohne Ziel, Zauberkönige in einer entzauberten Welt, in der sich Arbeit im alten Sinne nicht mehr rentiert, wo mit der Arbeit der anderen arbeiten muß, will einer vorwärtskommen, Leute, die sich kein Schamgefühl leisten können, Leute, diesseits jeder Scham. »Luder, Mistvieh, Drecksau, Bestie«, sagt Valerie über Alfred und über die Männer überhaupt, und Katja Kolm sagt es leise und müde. Angesichts der Versuche des politischen Systems, die »neue Unterschicht«, das »Prekariat« – oder welche Begriffe auch immer gesucht und gefunden werden, um den der »Klasse« zu vermeiden –, in ihrer Perspektivlosigkeit zu bestätigen, tut die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz das Richtige: sie bringt sie zur Darstellung, und zwar so, wie Horváth sie beschrieben hat. Fast so.
Ihre Welt ist eine Wiener Tabak-Trafik oder die »Puppenklinik« des Zauberkönigs, aber auch das Wiener Kino »Bellaria«, wohin die Alten die Filme ihrer Jugend anschauen gehen. Ihre Welt ist das Maxim mit Bar, Kabarettbühne und Séparées, aber auch die Kneipe Zum fröhlichen Bauernhof in Berlin-Marzahn, wo heute noch und wieder Live-Musik der sechziger und siebziger Jahre mit der Oldie-Band Seventy Roads zu erleben ist. Anna Viebrock hat verschiedene reale Orte zu einem Kunstraum verdichtet, der Vorstadttristesse von 1931 und 2007 in eins fallen läßt; die atmosphärische Lichtregie von Henning Streck hebt die wechselnden Lokalitäten in dem Gesamtraum hervor.
Christoph Marthaler weiß das Klingen und Singen, das in der Luft ist, zu deuten, die unsterblichen Walzer von Johann Strauß und Ziehrer und Schumanns Träumerei durch U-Musik von der E-Orgel zu ergänzen, die Clemens Sienknecht bedient, wenn er seinen Platz am Klavier aufgibt, um den kleinen Leuten den Conferencier und Animateur zu machen. Denen kommt manchmal, von sehr weit her, aus dem Unbewußten, solistisch oder im Chor, ein Schrammellied von Sieczynski, das Lied von der Wachau oder ein anderes über die Lippen.
Und Sienknecht kommen manchmal Takte aus dem Eingangschor der Matthäus-Passion zwischen die Finger, der Klage um das Opferlamm, weil sonst keiner da ist, der um ein ungetauftes Kind klagte, das nicht geopfert, aber getötet werden darf.
Einmal läßt Marianne diese Welt hinter sich und tritt vor das Tor. Die große Bettina Stucky spricht Mariannes Beichte im Stephansdom coram publico als Gespräch mit Gott, ganz ohne jeden stillen Glanz von innen, ohne jene innere Fülle, die auf dem Theater den Vertretern unterer Stände gerne unterschoben wird. Der große Josef Ostendorf kommt als Zauberkönig ohne jene wohlfeile Dämonie aus, die dem deutschen Kleinbürger, dem ewigen Spießer gerne angeheftet wird. Ostendorf spielt einen ebenso zärtlichen wie selbstmitleidigen Vater, trotz seiner Fettleibigkeit durchaus kein unattraktiver Mann, nicht nur für Valerie, der immer meint, ihm würde angetan, was er sich selbst antut, und der für Schicksal hält, was er andern antut.
Stucky und Ostendorf – noch einmal: zwei wahrhaft Große ihres Fachs! –, aber auch Ueli Jäggi als Oskar, Stefan Kurt als Alfred, Hildegard Alex als Mutter und Susanne Düllmann als die Großmutter widerstehen der Versuchung, die Leere und Abgestumpftheit der Figuren durch eine artifizielle Leistung aufzuheben, sei es durch die Anreicherung der Figuren mit innerem Leben, sei es durch die Ausstellung schauspielerischer Mittel. Der Versuchung unterliegen Matthias Matschke und Marc Hosemann: Matschke rettet sich vor Stück und Inszenierung in »Kisten«, wie spielerische Alleingänge im Theaterjargon heißen, verfehlt dabei jedoch die Strindbergsche Dimension der Figur des Rittmeisters. Für Hosemann erschöpft sich der Preuße Erich, Jahrgang 1911 und daher leider kein Kriegsteilnehmer, Jurastudent und Mitglied im akademischen Wehrverband, in Slapstick, Hackenschlagen und deutschem Gruß.
»Was ist Liebe?« hat gleich in der zweiten Szene Marianne, Bettina Stucky, ihren Verlobten Oskar gefragt. Darauf: Stille. Marthaler hat das Volksstück des Ungarn Ödön von Horváth wahrhaftig so inszeniert, wie es uns dieser Klassiker der deutschen Schaubühne zumuten wollte.
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