Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 11. Dezember 2006, Heft 25

Orale Orgien

von Henryk Goldberg

Es war ein langer Tag, und die Dame sah irgendwie nett aus. Ja, hallo, ich auch, doch, ganz schön und Sie? Ein heiteres Geplauder, und dann nahm das Gespräch seine verhängnisvolle Wendung: Weshalb sind Sie hier? Bei ihr, fügte sie, meiner zögerlichen Antwort vorauseilend, hinzu, sei es die Neurodermitis. Und schon, hast du nicht gesehen, hob sie an, mir die Geschichte ihrer Neurodermitis zu erzählen. Im Gegenzug wäre ich wohl, hätte ich nur ausgeharrt, mit der Konzession belohnt worden, ihr die Geschichte meiner Psoriasis zu erzählen. Was mag eine Frau, Mitte dreißig etwa, die mutmaßlich Frisur und Lippenstift überprüft ehe sie das Haus verläßt, wohl bewegen, einem wildfremden Kerl die Details ihrer Neurodermitis zu offenbaren?
Diesen irritierenden Umstand einmal beiseite, bin ich hinreichend ignorant, egozentrisch und gefühlskalt, um die Entgegennahme derartiger Informationen zu verweigern. Obgleich es nicht ganz einfach ist, das einen Menschen angemessen zu vermitteln, der nichts Böses tut und der nicht weiß, daß er auf meinen Nerven schaukelt wie in einer Hängematte, gelang es mir schließlich doch, das Zimmer zu erreichen, dessen Tür ich aufatmend hinter mir schloß.
Allein, wie ruhig das klingt.  So. Und jetzt stelle ich mir vor, ich wäre der Dame nicht auf dem Flur der Erfurter Hautklinik begegnet, sondern zwei, drei Menschen wie ihr im Krankenzimmer ausgeliefert, keine Fluchtmöglichkeit. Zwar, ich könnte sie schon dazu bringen, wenigstens nicht mir die Details ihrer Krankheit und ihres Stoffwechsels zu erzählen. Und dann? Dann zögen sie ihre Handys aus den Holstern und erzählten es jeden Menschen ihrer Bekanntschaft, also allen, die ebenfalls ein Handy besitzen.
Erzählten, wie es, je nachdem, ist mit der Haut, dem Stuhlgang und dem Eiter. Laut, deutlich, täglich. Mag sein, ich würde zum Misanthropen; mag sein, ich gälte im Krankenzimmerkollektiv fortan als ein arrogantes Arschloch, was nicht gut wäre für den Ruf dieser Zeitung. Und deshalb halte ich es für einen wunderbaren Gedanken, den Gebrauch von Handys im Krankenhaus grundsätzlich zu verbieten, vollkommen unabhängig von den Kosten der alternativ angebotenen Hausanschlüsse, über die es letztens Debatten gab. Wenn diese, bitte schön: überhöhten Kosten dazu führen, daß es in einem Krankenhaus akustisch anders zugeht als auf einem Rummelplatz, dann sollen sie willkommen sein. Ein Krankenzimmer ist nicht der Ort oraler Orgien.
Gewiß, mancher wird sich fragen, was er denn anstellen solle mit seiner freien Zeit, wenn er nicht einmal telefonieren darf; indessen sollte auch hier der Schutz der Opfer Vorrang haben vor dem der Täter. Und für die wenigen Tage, in denen einer im Regelfall sein Krankenzimmer nicht verlassen kann, da muß er halt die disziplinierenden Telefonkosten zahlen. Oder, besser, das Maul halten. Es gibt kein Menschenrecht auf ununterbrochene Geräuscherzeugung, aber es gibt eines auf Ruhe, wenigstens im Krankenhaus.
Und ich hoffe, sie werden das durchhalten können, auch wenn eines Tages bewiesen wird, das diese Mentaldildos für sie und ihn die Technik des Krankenhauses nicht im mindesten beeinträchtigen. Aber sie beeinträchtigen jene, die unter der oralen Inkontinenz ihrer Umwelt leiden. Und wenn das Krankenhaus dabei die Preise überzieht, dann ist dies das kleinere der Übel.