von Wladislaw Hedeler, z. Z. Nowosibirsk
Der Himmel über Nowosibirsk war so grau wie das Gebäude des Sibirischen Revolutionskomitees. Nur auf den Plakaten im Deutschen Generalkonsulat schräg gegenüber, die an den Tag der Einheit erinnerten, schien noch die Sonne. Dieses Jahr kam der Wintereinbruch unerwartet früh. Zu früh. Sogar überraschend für jene Nowosibirsker Kollegen, die meine Bedenken mit Hinweisen auf den bevorstehenden schönen Herbstausklang zu zerstreuen gesucht hatten. An sie mußte ich denken, als die Tupolew um drei Uhr Ortszeit statt in Nowosibirsk in Omsk landete. Es dauerte fast elf Stunden, bis es hieß, nun könnte es endlich weitergehen.
Einmal wurde die Landung einer Maschine aus Moskau angekündigt, zweimal gab es einen Imbiß, verpackt in grünen Schachteln. Bei der ersten Zuteilung mußten alle noch ihr Ticket vorzeigen. Wer es nicht dabeihatte, mußte es holen, sonst gab es nix. Eigentlich sinnlos, denn wir waren ja die einzigen Passagiere. Ich kannte das Prozedere schon von einem lange zurückliegenden, aber ebenso unfreiwilligen Zwischenstopps in Sankt Petersburg und hatte das überlebenswichtige Dokument dabei. Die Teebeutel und das heiße Wasser waren sehr schnell alle. »Für alle reicht es nie«, seufzte die Oma neben mir. »Leute, eßt auch was, greift zu! Wer weiß, wann es weitergeht«, rief der Administrator, als die grünen Schachteln das erste Mal verteilt wurden, in den Saal.
Den Spruch hätte er sich besser verkneifen sollen, denn ein leichtes Murren setzte ein, und einige Frauen begannen zu keifen. Zwei Milizionäre, die sich am Eingang langweilten, erhoben sich, nachdem sie die Szenerie eine Weile beobachtet hatten und setzten sich unwillig in Bewegung. Kurz darauf trat wieder Ruhe ein.
Einige Fluggäste waren längst in Richtung Omsker Bahnhof auf und davon. Wer ausharrte, wurde mit sturer Regelmäßigkeit per Durchsage auf das Verbot hingewiesen, die Flugzeuge, das Flughafengebäude oder die Startbahn zu fotografieren. Mit Geldstrafen in Höhe von bis zu fünf Monatsgehältern oder drei Jahre Gefängnis müssen jene rechnen, die es dennoch wagen sollten. Doch es hatte ohnehin niemand die Lust, den gastlichen Ort für ein Erinnerungsfoto abzulichten.
Wozu auch, es war ein typisches langezogenes U-förmiges Flughafengebäude aus Sowjetzeiten, wie es sie zwischen Archangelsk und Zelinograd zu Dutzenden gibt. Wer eines von ihnen gesehen hat, kennt alle. Ein Schlauch mit ein paar querstehenden Plastikstuhlreihen, einer Postfiliale mit zwei Telefonzellen und vielen geschlossenen Kiosken. Rechts der Anbau mit den Plumpskloboxen, links der Ausgang zum Zubringerbus. Vor der Treppe zum verschlossenen VIP-Raum stehen Bank- und Spielautomaten.
Die Frau am Postschalter hatte an diesem Tag einen guten Umsatz. Denn als die Handys aufhörten zu klingeln, setzte der Run auf die Telefonzellen ein. Gegen neun kamen die anderen Verkäuferinnen, schlossen die Buden auf und packten Bücher oder das Strickzeug aus. Niemand störte sie. Nur die Milizionäre lenkten sie ab, wenn sie vor die Tür gingen, um eine zu Zigarette zu rauchen.
Wir standen nach dem zweiten Imbiß an, als die Ansage ertönte, daß die Maschine nun startklar sei. Nach einer Stunde Flug von Omsk nach Nowosibirsk waren wir am Ziel. »Endlich hat das Warten ein Ende«, meinte der Taxifahrer am Flughafen. Auch für ihn war der Schnee im wahrsten Sinne des Wortes wie aus heiterem Himmel gekommen. Er hatte noch keine Zeit, die Winterreifen aufzuziehen. »Jetzt geht es schon, aber heute früh war alles zugeweht«, meinte er müde. Im Laufe des Tages verwandelten sich Wege und Straßen in Rutschbahnen, und der Dreck färbte die Autos einheitsgrau. Doch ein leichter Temperaturanstieg um die Mittagszeit genügte, um den Schnee in Pampe zu verwandeln. Als dann auch noch ein leichter Nieselregen einsetzte, wurde das Überqueren der Straßen problematisch.
Auf meinem täglichen Weg vom Hotel zum Archiv in der Nowosibirsker Innenstadt kenne ich inzwischen alle tückischen Stellen. Beim letzten Aufenthalt hatte ich ein Quartier auf der anderen Seite des Obs. Dieses Mal bleibt mir die Busfahrt über die Brücke erspart.
Hinter dem Platz zwischen dem 1912 erbauten Theater Rote Fackel und dem 1928 eröffneten Stalin-Klub, heute dem Kulturhaus »Oktoberrevolution«, ist noch etwas von der Atmosphäre der Altstadt zu spüren. Neubauten und Wolkenkratzer, die die Baulücken ausfüllen, prägen inzwischen auch hier das Bild. In Richtung Hauptbahnhof stehen noch einige Holzhäuser. »Hier wohnte der flammende Tribun, der Revolutionär S. M. Kirow im Jahre 1908«, ist auf der Tafel über einer Eingangstür zu lesen. Nicht nur hier in Nowosibirsk, auch in Kemerowo und Tomsk ist er nach Lenin der Revolutionär Nr. 2. Lenin war in Nowosibirsk nur auf der Durchreise. 1897, die Bahn führte noch nicht über den Fluß, kam er in Kriwoschtschekowo an, setzte über und fuhr vom Ob-Bahnhof aus weiter in die Verbannung.
Auf dem Weg in Richtung Innenstadt ist die gewaltige Kuppel der Oper nicht zu übersehen. Langsam taucht dann auch das Gebäude mit dem Lenindenkmal davor auf. Breite Bürgersteige, massige Wohnhäuser, Bankgebäude aus den zwanziger Jahren, dazwischen einige Backsteingebäude aus vorrevolutionären Zeiten. Vor dem Kino Pobeda sind Glaskacheln verlegt. Ich bin immer wieder froh, wenn ich es über die Quadrate mit den Sowjetsternen geschafft habe. Hinter dem Hauptpostamt, das einer Miniaturausgabe des Moskauer Telegrafenamtes in der Twerskaja gleicht, kann man die Abkürzung durch den Park nehmen. Er endet an der Gorkistraße. Im Unterschied zur Moskauer Namensvetterin ist sie nicht umbenannt, sonst würde sie wieder Tobisenewskaja heißen. Bevor man die zwischen 1910 und 1912 errichtete Markthalle, die heute das Heimatmuseum beherbergt, erreicht, riecht und hört man bereits den Verkehr auf dem Krasnyj prospekt.
Der Platz vor der Halle hieß ursprünglich Basarnaja ploschtschad – Marktplatz. Daraus wurde dann der Rote Platz und später der Leninplatz. Dieser Platz und vierzehn weitere Straßen im Zentrum wurden erstmalig im August 1920 umbenannt. Damals gab es 132 Straßen in der Stadt, heute über 1700. »Ihre Benennung spiegelt die geistig-moralischen Werte, das historische Gedächtnis, die Zeit und das Leben der Stadt wider«, leitete Iwan Zyplakow sein im Jahre 2001 veröffentlichtes Buch über die Nowosibirsker Straßennamen ein.
Spätestens auf Höhe des »einzigen richtigen deutschen Geschäfts in Nowosibirsk«, das Deutschmark heißt, ist der Moment gekommen, sich zu entscheiden, ob man den Prospekt hier überquert oder nicht. Ein Oder gibt es genaugenommen nicht. Entweder über das Glatteis oder durch das Schlammloch, die Zeit zum Nachdenken ist so kurz wie die Ampelphase. In Höhe der Oktoberstraße geht es wieder leicht bergab, hinunter zum Ob. Von der Kommunistischen Straße mit der geschlossenen Pelmenibar und dem Café Schanghai ist es nur noch ein Katzensprung bis zum Archiv in der Swerdlowstraße.
Der Lesesaal ist gut geheizt, und die Akten liegen schon bereit. Am Vormittag ist wenig Publikumsverkehr. Die meisten Leser kommen gegen Mittag. Dafür ist auf dem Flur hinter dem Lesesaal mehr Bewegung. Die Mitarbeiterinnen des Standesamtes, dessen Büros ebenfalls im Gebäude sind, sitzen schon beim Tee.
Ich bin gespannt zu sehen, wer heute als nächster eintrifft. Es ist der Opa mit dem Hörgerät, er recherchiert im Auftrag des Veteranenkomitees. Lachend legt er sein Handy neben den Aktenstapel auf den Tisch. Beim letzten Mal hat er den Klingelton, der dem Signal des Rauchmelders im Lesesaal sehr ähnelt, nicht gehört. Die verunsicherten Archivarinnen meinten, es handele sich um eine Störung der Anlage. Erst der benachrichtigte Brandschutzbeauftragte hatte die richtige Idee. »Sag’ mir Bescheid, wenn es klingelt«, bittet mich Iwan Nikolajewitsch. »Aber klar«, anworte ich. Zwei Stunden später klingelt es, seine Frau ist am Apparat. Das Mittagessen ist fertig. Er packt ein und geht.
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