Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 25. Dezember 2006, Heft 26

Eine schöne Erkenntnis

von Detlef Kannapin

Der Dramatiker und Schriftsteller Peter Hacks hat sich, soweit ich das überblicken kann, zeitlebens am Kampf zwischen Klassik und Romantik abgearbeitet. Das ist, wie ich jetzt weiß, nicht nur von literaturgeschichtlichem Interesse. Hacks sieht Goethe als den unerreichten Klassiker an, dem eine Unzahl romantischer Schriften entgegenfliegen, welche den Kunstbegriff selbst zu unterminieren versuchen. Romantik ist für Hacks die Stimmung einer Fronde gegen den Fortschritt, im Falle der Goethezeit gegen Napoleon. Romantisches Schrifttum gibt es heute noch, die Klassik ist mehrheitlich tot.
Ins Philosophische gewendet ist der Widerstreit von Klassik und Romantik der von Rationalismus und Irrationalismus. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, daß der Irrationalismus von Schelling bis Sloterdijk trotz Hegel und Marx die führende philosophische Strömung des Spätimperialismus darstellt. Georg Lukács wußte das für seine Epoche, und das Grundlagenwerk Die Zerstörung der Vernunft von 1954 sollte hiermit einer bewußten Neubewertung unterzogen werden. Nicht Dogmatik kennzeichnet das Buch, sondern Hellsichtigkeit.
Ich habe mehrere Abende darüber nachgedacht, ob sich die Hackssche Denkfigur auf andere Bereiche der Gesellschaft übertragen läßt. Da es immer besser ist, das Ganze an einem Gegenstand auszuprobieren, der einem am besten geläufig ist, fiel mir natürlich der Film ein. Die Stellung von Hacks zum Film ist indifferent. In seinen kunstphilosophischen Schriften wird er nicht erwähnt, und zu vermuten ist, daß er den Film unters Fernsehmedium subsumiert hätte, womit sein Unkunstcharakter für ihn bewiesen wäre.
Also: Die Geburt des Films datiert von 1895. Es ist davon auszugehen, daß auch in Zukunft Filme produziert werden, daß der Film als ästhetischer Ausdruck sozialer Prozesse Bestandteil der Kultur bleiben und auch von späteren sogenannten Medienrevolutionen nicht verdrängt werden wird. Eine über hundertjährige Existenz gestattet vielleicht bereits so etwas wie eine Zäsurensystematik.
Wie man durchaus mitbekommen hat, gehört die Ausdifferenzierung der Wissenschaften zum hochtechnologischen Zeitalter wie die indirekte Ausbeutung zum relativen Mehrwert. Für die Filmphilologie bedeutet das in der Gegenrevolution und überall, die falschen Fragen zu stellen und die richtigen nicht zuzulassen. Semiotik, Hermeneutik, Konstruktivismus, Systemtheorie und Postmoderne, das sind mit Sicherheit nur Verschleierungsbegriffe für das romantische Kernwesen. Wir können nur froh sein, daß sich Luhmann und Foucault nicht zum Film geäußert haben, wie es andererseits bedauert werden muß, daß Deleuze es getan hat. Im Munde geführt werden die Klassiker Eisenstein und Kracauer, verstanden scheinen sie in der Gegenwart um so weniger, je mehr man sie aus dem politischen Kontext löst. Von der Filmkritik, die wieder Filmbesprechung heißen müßte, ganz zu schweigen.
Von 1895 bis 1925 war der Film Jahrmarkt. Das schloß nicht aus, daß im Jahrmarktgetümmel auch Ansätze von Kunst entstanden. Film wurde aber erst mit Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin zur Kunst, ein Film, der laut Kracauer die Wahrheit zeigt, um die es zu gehen hat. Nach diesem Film begann die klassische Periode, die ungefähr bis 1960 reichte. Bekannt, sagt die Filmphilologie, in jenem Jahr löste das Fernsehen den Film als Leitmedium ab. Unerkannt, sage ich, da der Maßstab für den Fortschritt nicht die Mechanisierung ist. Die besten Arbeiten der Filmkunst entstanden zwischen 1925 und 1960, auch die ideologisch bedenklichsten – aber eines hatten alle gemeinsam: Sie waren ein Kommentar zur Herausforderung des Potemkin.
Außerdem endeten die wesentlichen Arbeiten zur Filmgeschichte 1960. Der polnische Filmhistoriker Jerzy Toeplitz konnte zum Beispiel seinen sechsten Band (1954-1960) nicht vollenden, weil er vorher darüber starb. Der Vertrag mit Henschel war unterzeichnet. Das längerfristig Erwähnenswerte im Film seit 1960 speiste sich aus einem Rückgriff aufs Klassische. Inhalt, Dramaturgie und Bildsprache werden in den besten Fällen realistische Analogien zu den Lebensumständen ziehen. Es wird erst gefragt, wovon jemand lebt oder leben muß, bevor der subjektive Faktor greift. Darin sind sich Der Fall Gleiwitz von 1961, Zabriskie Point von 1969, Aufstieg von 1976 oder Talk Radio von 1988 einig. Eine neue Lage ergab sich dann seit 1990.
Ab da fragte keiner mehr nach der Basis. Kunst im Film wurde mehr denn je bescheinigt, je subjektiver das Umfeld sich gerierte. Von Trier und Almodovar als die Indikatoren der Ratlosigkeit, die gefeiert wurden; Vergewaltigung und Kitsch als die höchsten Tugenden der Essenz des Menschlichen. Das ist Romantik und Irrationalismus pur, wenn über dem Schein der Existenz das Wesen verloren geht. Ich wundere mich die ganze Zeit, während ich dies schreibe, warum Leute gefeiert werden, denen die Zukunft der Menschheit herzlich egal ist. Die Antwort dürfte der dialektische Materialismus geben.
Kurzum: Die Romantik als Stimmung einer Fronde gegen den Fortschritt ist im Film präsent. Die Zukunft des Films liegt in seiner Vergangenheit und seine Gebrechen in der Verschüttung früherer Möglichkeiten. Wenn das keine schöne Erkenntnis für das neue Jahr ist, dann weiß ich nicht. Bis dann.