von Christoph Butterwegge
In der Weimarer Republik erlebte der Sozialstaat zuerst einen bis dahin nicht gekannten Aufschwung. Während der Weltwirtschaftskrise gegen Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre wurden er und mit ihm die Demokratie aber schrittweise zerstört. Wie die steigende Massenarbeitslosigkeit, mehr noch jedoch der Abbau des Sozialstaates die junge Republik untergruben, stellt ein Lehrstück historisch-politischer Bildung dar. Im ersten Teil dieses Beitrags (Blättchen 23/2006) schildert der Autor die Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg bis zur Kanzlerschaft Brünings.
Unter dem christlichen Gewerkschafter und Zentrumspolitiker Heinrich Brüning, der vom 30. März 1930 bis zum 1. Juni 1932 Reichskanzler war, verschärfte ein Austeritätskurs die Wirtschaftskrise noch mehr. Brüning hoffte auf die »Selbstheilungskräfte« des Marktes, während seiner Ansicht nach das Geld für Konjunkturprogramme fehlte, solange die Reparationsverpflichtungen des Versailler Vertrages bestanden. Durch den neoklassischen Mainstream der Nationalökonomie bestärkt, drang Brüning auf mehr Zurückhaltung in der Lohnpolitik sowie bei den Staatsausgaben, wovon er sich eine Sanierung des Budgets und eine Reaktivierung der Wirtschaft versprach. Mit der Schwächung des Tarif- und Schlichtungswesens, dem Abbau der Arbeitslosenversicherung und der als »Sonderopfer des öffentlichen Dienstes« deklarierten Senkungen von Beamtengehältern und -pensionen begann unter Brüning ein Rückzug des Sozialstaates, der den Weg zur NS-Diktatur ebnete. Dabei verschärfte eine für die Exportbranchen vorteilhafte Deflationspolitik die Wirtschafts- und Beschäftigungskrise. Erschreckend sind historische Parallelen zur Gegenwart, gleichen doch Vorschläge, mit denen Unternehmerverbände und Politiker heute das System der sozialen Sicherung »verschlanken« wollen, den schon damals diskutierten bzw. ergriffenen Maßnahmen teilweise bis ins Detail. Dies gilt z.B. für die Reform des Föderalismus, den Bürokratieabbau, die Schwächung des Tarifvertragssystems bzw. des staatlichen Schlichtungswesens, die Verlängerung der Arbeitszeit und die Erleichterung von Kündigungen, womit man die Wirtschaft bzw. ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt stärken wollte, genauso wie für Lohn- bzw. Gehaltssenkungen, die dem Handwerk und dem Einzelhandel zu schaffen machten.
Brünings nur ein halbes Jahr lang amtierender Nachfolger Franz von Papen stützte sich unverhohlen auf Vorschläge der (Schwer-)Industrie, die eine Entrechtung der abhängig Beschäftigten und eine Entmachtung ihrer Gewerkschaften anstrebte. Übereinstimmend erklärten beide Reichskanzler zwar, den Sozialstaat durch Reformen »in der Substanz erhalten« zu wollen, demontierten ihn aber Schritt um Schritt, was seiner weiteren Zerstörung eher Vorschub leistete.
Sowohl zwischen den gesellschaftlichen Interessengruppen bzw. den Verbänden von Unternehmern und Beschäftigten als auch zwischen den Gebietskörperschaften war umstritten, wem die enormen Kosten der Massenarbeitslosigkeit aufgebürdet werden sollten. Das deutsche Unterstützungssystem war dreigliedrig: Versicherte, die erwerbslos wurden, erhielten zunächst höchstens 26 Wochen lang Arbeitslosenhilfe (Hauptunterstützung) und Familienzuschläge für ihre engsten Angehörigen. Danach gab es im Falle der Bedürftigkeit gleichfalls 26, später sogar 52 Wochen lang Krisenfürsorge, bevor die allgemeine Wohlfahrt (der Gemeinden) einsprang. Während das Reich erwerbsfähige Arbeitslose unterstützte, die ohne Versicherungsleistungen blieben, oblag den Gemeinden die Zahlung der Wohlfahrtsunterstützung für nicht oder nur eingeschränkt Erwerbsfähige.
Innerhalb des dreigliedrigen Systems kam es zu Umschichtungen, die Finanzierungsschwierigkeiten entsprachen, aber auch unterschiedlichen Interessenlagen der Hauptakteure und Machtverschiebungen entsprangen, die nicht zuletzt der steigenden Arbeitslosigkeit geschuldet waren. Gab es anfangs sogar Bemühungen, die kommunale Erwerbslosen- in der staatlichen und teilweise aus Versicherungsmitteln finanzierten Krisenfürsorge aufgehen zu lassen, dominierten ungefähr seit dem Jahreswechsel 1930/31 Bestrebungen, die Krisenunterstützung mit der Wohlfahrtsfürsorge unter einheitlicher Verwaltung der Gemeinden zu verschmelzen. Am Ende des zuletzt genannten Jahres kursierten Pläne der Kommunen wie der Arbeitgeberverbände, alle Zweige des bestehenden Unterstützungssystems auf der Grundlage des (für die Erwerbslosen kargen und sie entrechtenden) Fürsorgeprinzips zusammenzulegen.
Da die Arbeitslosen wegen der Wirtschaftskrise immer schneller (aus der staatlichen Krisenfürsorge) »ausgesteuert« wurden, stiegen die finanzielle Belastung und die Verschuldung der Kommunen seit 1929/30 enorm. Sowohl die öffentliche Reformdebatte als auch die Regierungspolitik verschoben sich von einer Fusion der beiden Fürsorgesysteme auf dem (niedrigeren) Niveau der Wohlfahrtshilfe in Richtung einer Preisgabe des Versicherungsprinzips. Dezentralisierung und Kommunalisierung der Arbeitslosenunterstützung führten zu einer sozialen Nivellierung nach unten. In der ersten Verordnung des Reichspräsidenten »zur Behebung finanzieller, wirtschaftlicher und sozialer Notstände«, die einen Monat nach Auflösung des Parlaments am 26. Juli 1930 erlassen wurde, ergänzten sich Steuererhöhungen einerseits sowie Leistungskürzungen im Bereich der Arbeitslosen- und Krankenversicherung andererseits.
Obwohl das Reichsarbeitsministerium noch einen weiteren Ausbau der Krankenversicherung vorgeschlagen hatte, dominierten »Sparbemühungen«, die eine Mehrbelastung der Versicherten durch eine Krankenscheingebühr und einen Arzneimittelbeitrag hervorbrachten. Eine weitere Notverordnung vom 1. Dezember 1930 beinhaltete unter anderem eine Erhöhung der Tabaksteuer, während die Vermögen-, Grund- und Gewerbesteuer gesenkt wurden. Kurzfristig wurde im Frühjahr 1931 eine nach ihrem Vorsitzenden, dem früheren Arbeitsminister Heinrich Brauns benannte Gutachterkommission zur Arbeitslosenfrage gebildet. Ihre Mitglieder, die innerhalb weniger Monate drei Berichte (zur Arbeitszeitfrage und zum sog. Doppelverdienertum, zur Arbeitsbeschaffung sowie zur Arbeitslosenhilfe) unterbreiteten, ohne damit viel Wirkung zu erzielen, kamen nicht mehr aus der Politik, sondern aus Verwaltung und Wissenschaft.
Dies war ein Indiz dafür, daß immer stärker expertokratisch statt demokratisch agiert und am Parlament vorbei regiert wurde. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion trug in der Opposition sogar Gesetzesvorhaben mit, die deutliche Verschlechterungen für von ihr repräsentierte Bevölkerungsschichten beinhalteten. Diese sogenannte Tolerierungspolitik zahlte sich aber keineswegs aus, trug vielmehr zur massenhaft verbreiteten Enttäuschung über die reformistische Arbeiterpartei und das Parteiensystem der Weimarer Republik insgesamt bei. Ganz ähnlich verhielt es sich bei den Freien Gewerkschaften, deren Mitgliederzahl nicht nur aufgrund der ständig wachsenden Arbeitslosigkeit und dadurch bedingter Austritte rapide sank. Viele aktive Gewerkschafter/innen wandten sich von der SPD ab, fühlten sich aber auch von der ADGB-Spitze nicht mehr repräsentiert.
Am 14. Juni 1932 höhlte Reichskanzler von Papen das Unterstützungssystem für Arbeitslose weiter aus, ohne es allerdings formal abzuschaffen. Durch die Verordnung des Reichspräsidenten über Maßnahmen zur Erhaltung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialversicherung sowie zur Erleichterung der Wohlfahrtslasten der Gemeinden wurden die Struktur und das Leistungsniveau der drei Systeme noch mehr angeglichen. Schließlich wurde die (dem heutigen Arbeitslosengeld I entsprechende) Arbeitslosenhilfe höchstens sechs Wochen lang gezahlt, so daß weniger als zehn Prozent der registrierten Arbeitslosen sie überhaupt noch erhielten. Die mit dem heutigen Arbeitslosengeld II vergleichbare, ursprünglich als Brücke zwischen Arbeitslosenhilfe und Armenfürsorge gedachte Krisenunterstützung durfte nunmehr das Niveau der Fürsorgeleistung nicht mehr überschreiten.
Schon damals wollte man die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie durch eine »Sparpolitik« bei den Löhnen und in den öffentlichen Haushalten wiederherstellen bzw. spürbar erhöhen. Als das nur noch halbdemokratische Regierungs- und Parteiensystem diese Aufgabe gegen Ende der Weimarer Republik trotz drastischer Beschneidung vieler Sozialleistungen nicht erfüllte, befürworteten Industrie- und Bankenkreise eine Kabinettsbeteiligung der NSDAP, die am 31. Juli 1932 zur stärksten Partei im Reichstag geworden war und ihren größten Wahlsieg gefeiert, bei der Novemberwahl desselben Jahres aber erstmals auch wieder Stimmen verloren hatte.
Von Christoph Butterwegge erscheint im Verlag für Sozialwissenschaften die 3., erweiterte Auflage des Buches »Krise und Zukunft des Sozialstaates«, 318 Seiten, 24,80 Euro
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