von Christoph Butterwegge
In der Weimarer Republik erlebte der Sozialstaat zuerst einen bis dahin nicht gekannten Aufschwung. Während der Weltwirtschaftskrise gegen Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre wurden er und mit ihm die Demokratie aber schrittweise zerstört. Wie die steigende Massenarbeitslosigkeit, mehr noch jedoch der Abbau des Sozialstaates die junge Republik untergruben, stellt ein Lehrstück historisch-politischer Bildung dar.
Weimar erlebte zunächst einen Siegeszug des Sozialstaates, vor allem im Hinblick auf den öffentlichen Wohnungsbau, die Entwicklung des Gesundheitswesens und die Ausweitung der Sozialversicherung. An die Stelle der Kriegswohlfahrtspflege trat nach dem Ersten Weltkrieg die Erwerbslosenfürsorge. Die an das Fragebogen-Verfahren beim Arbeitslosengeld II erinnernde Bedürftigkeitsprüfung erfaßte nicht nur den Antragsteller, sondern auch mit ihm in einer Wohnung zusammenlebende Verwandte, die nach geltendem Recht gar nicht zum Unterhalt verpflichtet waren. Dadurch wurden keineswegs die Familienbande gestärkt, wie man amtlicherseits hoffte, sondern umgekehrt eher zerstört: Besonders jüngere Arbeitslose, denen man die Unterstützung kürzte oder versagte, zogen von zu Hause aus. Kernstück der im Oktober 1919 geschaffenen »produktiven Erwerbslosenfürsorge« waren öffentliche Notstandsarbeiten, zu denen man Arbeitslose zwangsverpflichten konnte.
Träger solcher Maßnahmen, die dem »Neubau des Wirtschaftslebens« dienen, volkswirtschaftlich wertvoll sein und zusätzlichen Charakter tragen mußten, waren meist die Gemeinden und Gemeindeverbände. Es ging den Behörden darum, die Arbeitswilligkeit der Antragsteller zu testen und diese im Weigerungsfall von Leistungen auszuschließen. In der Arbeitsverwaltung wie im Finanzministerium nahm man an, die Gesamtsumme der Transferleistungen würde durch das Verlangen einer Gegenleistung sinken. Schon bald stellte sich jedoch heraus, daß die Beschäftigung der Erwerbslosen nicht nur sehr viel mehr kostete als die bloße Unterstützung, sondern auch erheblich mehr, als veranschlagt worden war.
Bei den sogenannten 1-Euro-Jobs, mit Hartz IV in deutlicher Analogie zur »produktiven Erwerbslosenfürsorge« geschaffen, ist das heute nicht anders. Ein auch künftig zu befürchtendes Resultat der Kluft zwischen übertriebenen Erwartungen und harter Wirklichkeit bestand darin, daß weniger Notstandsarbeiten finanziert und daß öffentliche Aufgaben zu solchen umfunktioniert, also reguläre Stellen vernichtet beziehungsweise Arbeitnehmer/innen, die sie sonst besetzt hätten, verdrängt wurden.
Im Oktober 1923 wurde zudem die »Pflichtarbeit« eingeführt. Seither sollten die Gemeinden ihre Unterstützung möglichst von einer Arbeitsleistung der Betroffenen abhängig machen, die bis zu 24 Stunden (bei schwerer körperlicher Belastung: bis zu 16 Stunden) wöchentlich dauern durfte. In der Alltagspraxis handelte es sich dabei oft nicht um die Erledigung von »zusätzlichen«, sondern von Regelaufgaben, etwa Bau- und Reinigungsarbeiten der Gemeinden, für die sie zwangsverpflichtete Arbeitslose einsetzten, um Lohnkosten zu sparen. Den sozialpolitischen Höhepunkt und die Krönung der Weimarer Wohlfahrtsstaatsentwicklung bildete das nach langen Debatten zwischen Reichsregierung, Gewerkschaften und Unternehmerverbänden verabschiedete Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) vom 16. Juli 1927. Da der Winter 1928/29 hart und die Konjunktur nicht stabil war, geriet der das Sozialsystem vorerst komplettierende vierte Versicherungszweig bereits kurz darauf in finanzielle Schwierigkeiten.
Kaum ging die Periode der relativen Stabilisierung (1924 bis 1928) zu Ende, schon begann mit der Diskussion über »wachsende Soziallasten« ein argumentativer Sturmlauf gegen den Wohlfahrtsstaat. Hauptträger dieser Angriffe waren Großindustrielle des Ruhrgebiets, die hofften, das Versicherungs- durch das Fürsorgeprinzip ersetzen, sich einer paritätischen Finanzierung des Sozialsystems entziehen und ihre Gewinne auf diese Weise steigern zu können. Ein intellektueller Wortführer der Bewegung zur Zerschlagung des Weimarer Sozialsystems hieß Gustav Hartz. Den im Unternehmerlager favorisierten Privatisierungsplänen entsprechend, schlug dieser deutschnationale Kritiker in seinem Buch Irrwege der deutschen Sozialpolitik und der Weg zur sozialen Freiheit schon 1928 vor, die Sozialversicherung à la Bismarck durch persönliches Zwangssparen zu ersetzen. Über bis zur eher kuriosen Namensgleichheit von Hauptakteuren reichenden Gemeinsamkeiten dürfen die gravierenden Unterschiede zwischen damals und heute aber nicht übersehen werden.
Die soziale Lage der auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise über sechs Millionen offiziell registrierten Erwerbslosen war viel dramatischer als die der Betroffenen heute. Sie und ihre Familien lebten unter Elendsbedingungen. Zudem war die Arbeitslosenquote mehr als doppelt so hoch wie in der Gegenwart, und auch die Weltmarktdynamik war längst nicht so ausgeprägt.
Während der Weltwirtschaftskrise 1929/33 zerbrach nicht nur der gesellschaftspolitische Basiskonsens zwischen den Klassen beziehungsweise deren organisierter Interessenrepräsentanz, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, sondern im März 1930 auch die Große Koalition, deren beide Flügelparteien keine Einigung über den Weg zur finanziellen Konsolidierung der Arbeitslosenversicherung erzielten. Die unternehmernahe DVP bestand auf einer Kürzung von Leistungen, wohingegen die SPD-Fraktion im Unterschied zu ihrem Reichskanzler Hermann Müller und seinen Ministerkollegen nur eine Anhebung der Beiträge (damaliger Satz: 3,5 Prozent) unterstützte. In heutiger Diktion würde man sagen, daß die Beitragssatzstabilität bei den bürgerlichen Koalitionären absolute Priorität genoß, weil die Erhöhung der Lohnnebenkosten verhindert und die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland nicht gefährdet werden sollte.
In kürzer werdenden Abständen folgten der Regierung Müller immer weniger legitimierte (Präsidial-)Kabinette, die zwar kein Konzept zur Krisenbewältigung hatten, aber die sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer und Erwerbslosen mit rasantem Tempo beschnitten sowie den Wohlfahrtsstaat und die Demokratie demontierten.
Man hat rückblickend den Eindruck, daß die Weimarer Republik und ihr Sozialsystem bewußt zugrunde gerichtet wurden, wobei die Arbeitslosenversicherung ganz oben auf der Agenda stand. Aufgrund der wachsenden Massenarbeitslosigkeit und entsprechender Beitragsausfälle stieg der Beitragssatz auf 6,5 Prozent. Er war damit genauso hoch wie heute. Mittels einer politischen Salamitaktik wurden die Leistungen durch schrittweise Kürzung der Unterstützung bei gleichzeitiger Ausdehnung der Wartezeiten und Sperrfristen für Arbeitslose beschnitten, worunter die Akzeptanz des Sozialstaates insgesamt litt, weil er seine Hauptfunktion kaum noch zu erfüllen vermochte. (Wird fortgesetzt)
Von Christoph Butterwegge erscheint im Verlag für Sozialwissenschaften die 3., erweiterte Auflage des Buches »Krise und Zukunft des Sozialstaates«, 318 Seiten, 24,80 Euro
Schlagwörter: Christoph Butterwegge