von Wladislaw Hedeler
An die Stelle der aus Sowjetzeiten bekannten Feiern anläßlich des Jahrestages des »Großen Oktober« am 7. November ist nunmehr der rußlandweit »würdig begangene« Tag der »Nationalen Einheit« (Den nazionalnowo jedinstwa) am 6. November getreten. Die Frage, die in diesem Zusammenhang immer wieder aufkommt, ist, wie sich das Volk vereinigen und worauf es sich mit wem auch immer einigen soll. Wie immer, lieferte das Fernsehen auch diesmal die Begleitmusik zu dieser Kampagne – unter dem traditionellen Motto »Auf welches Erbe verzichten wir«. Es ist vor allem die »Große Sozialistische«, die in den Medien unter Ausklammerung des Februar 1917 unter der Rubrik der russischen Wirren, gewissermaßen als Fortsetzung des »smutnoe wremja« behandelt und ins Bild gesetzt wird. Lenin und sein Gefolge im Kreml erscheinen als Nachfolger von Dmitrij, dem selbsternannten Zaren, während das Blut über die Landkarte des gequälten Reiches fließt.
Leben und Tod des Ljonka Pantelejew, des letzten russischen Robin Hoods, der zunächst im Auftrag, dann gegen die Tscheka agierte und deshalb von ihr liquidiert wurde, zeigt in mehreren Folgen die Ausweglosigkeit des »letzten Aufrechten«. Im Film, in dem sich ein Rentner auf seine Fähigkeiten als »Woroschilow-Schütze« besinnt und die neuen Reichen aus dem Viertel schießt, darf der Opa mit den Ordensspangen am Jackett überleben. Auge um Auge, Zahn um Zahn lautet ein Grundmotiv der neuen, tagtäglich propagierten Lebensweise. Nur in der Sendereihe Außerordentliche Vorkommnisse geht es brutaler zu. Wie es um das wahre Leben der Mächtigen unter dem »Vater der Völker« und »Leonid Iljitsch« bestellt war, flimmert ebenfalls regelmäßig über den Bildschirm. Und wie endete das alles? So wie es enden mußte – lautet das lapidare Resümee eines Kommentators.
Wer bis zu dieser Botschaft vor der Mattscheibe durchgehalten hat, mußte -zig Werbeblöcke über sich ergehen lassen. Geworben wird im 15-Minuten-Takt, unter anderem für schnelle Autos, Winterreifen und immer wieder für Bier. Selbst Nachrichtensendungen, in denen täglich von den in die Tausende gehenden an Alkoholvergiftung verstorbenen Bürgern und Bürgerinnen berichtet wird, werden von diesen Spots unterbrochen. Was und wie landauf, landab alles gemischt, unters Volk gebracht und von ihm dann auch noch getrunken wird, reicht für mehr als nur für einen Horrorfilm.
Reportagen aus den überfüllten Krankenhäusern voller gelbgesich tiger Schnapsleichen und hilfloser Ärzte wechseln sich mit Talkshows über Sinn und Unsinn des staatlichen Wodkamonopols ab. Da in Rußland bekanntlich schon immer getrunken wurde, spielen weder Zeit noch Raum noch der Kontext eine Rolle. Einige Ministerialbeamte wurden wegen falscher Entscheidungen – erstmalig in der russischen Geschichte – fernsehöffentlich abgestraft. So wird die von Präsident Putin beschworene »Diktatur des Gesetzes« durchgesetzt. Parallel dazu läuft die Säuberung an der Basis ab. Während überraschender Razzien auf den Märkten nehmen Staatsdiener in Uniform und in Zivil Händler fest und heben die illegalen Abfüllstellen aus.
Doch auf einen abgeschlagenen Drachenkopf wachsen drei nach. Wie schon in den Bemerkungen Putins aus Anlaß des Tages der Opfer politischer Repressalien am 30. Oktober ist auch hier nur von den Opfern die Rede. Über die Auftraggeber und Drahtzieher erfährt man nichts.
Am Morgen nach dem Volksfest sieht es auf den nach den Revolutionshelden von einst benannten Straßen, Plätzen und in den Parks der Stadt so aus wie an jedem Morgen nach einem gewöhnlichen Wochenende. Flaschen und Dosen liegen oder stehen massenhaft herum. So können sie von den Sammlern, die nicht auf das Pfandgeld verzichten können, leichter aufgenommen werden. Die Kippen, den Glasbruch und den Verpackungsmüll fegen die Männer von der Stadtreinigung bis zum Mittag zusammen. Schließlich steht die nächste feierliche Demonstration bevor. Da die Stadtverwaltung von Nowosibirsk ihre Einwilligung, den »Krasnyj prospekt« für den Verkehr zu sperren, nicht erteilte, wurde aus der Demonstration eine Kundgebung.
Hinter dem Rücken von Lenin, zwischen den Grünanlagen vor dem Operntheater in Nowosibirsk, war eine provisorische Tribüne aufgebaut worden. Davor standen die Demonstranten mit roten Fahnen, roten Fähnchen und roten Luftballons. Die sich abwechselnden Redner mahnten, deklamierten und riefen die Kommunisten auf, voranzugehen. Nur wohin? Wir bleiben hier, denn wir können ja nicht auswandern, sagte einer von ihnen. Der Grundtenor der Ansprachen war, daß jenen, die alles aufgebaut haben, nun alles genommen wird. Auf den Gedanken, daß Lenin und seine Nachfolger Anteil am Scheitern des Systems hatten, dem sie weiter entgegenstreben wollen, kam auf der Tribüne niemand. Zumindest sprach in dieser feierlichen Stunde niemand diesen Gedanken aus.
Als einer der Redner beiläufig bemerkte, daß der Gulag nicht schlecht, sondern nötig gewesen war, um den Krieg zu gewinnen, hatte ich genug gehört und ging in Richtung Denkmal davon. Lenin kehrte der Versammlung den Rücken und blickte über den Prospekt hinweg zu der nach ihm benannten U-Bahnstation. Die Passanten waren auf dem Weg von der Arbeit nach Hause. Hin zur Menge schaute kaum jemand, niemand schien sich für das, was sich auf dem Platz tat und gesprochen wurde, zu interessieren.
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