von Frank Ufen
Was haben Gerd Müller, Diego Maradona und Tony Ailton miteinander gemein? Ihr Body-Maß-Index (BMI) ist ungewöhnlich hoch, doch merkwürdigerweise sind sie trotzdem große Torjäger geworden. Schon dieser Umstand, behauptet der Lebensmittelchemiker Udo Pollmer, deute darauf hin, daß der BMI als Gesundheitsindikator völlig unbrauchbar ist. Ein weiterer Umstand kommt hinzu: Der BMI ist eine Erfindung der Versicherungsbranche. Um ihre Prämien kalkulieren zu können, ermittelten die Versicherungsgesellschaften die Körpergröße und das Gewicht ihrer Kunden und erhoben anschließend die Meßdaten derjenigen, die am längsten lebten, zu universalen Richtwerten. Allerdings wurde dabei übersehen, daß die meisten Policen von jungen Menschen, die eine schlanke Statur und eine gute körperliche Verfassung vorweisen konnten, abgeschlossen worden waren.
Der große deutsch-amerikanische Biologe Ernst Mayr hatte Darwins Doktrin vom survival of the fittest schon früh in Frage gestellt. In der Regel, erklärt Mayr, begnüge sich die Natur damit, die am schlechtesten Angepaßten zu eliminieren. So sei gewährleistet, daß nach einem abrupten Wandel der Umweltverhältnisse zumindest einige Mitglieder der Art mit Eigenschaften ausgestattet sein würden, die der Überlebenskampf jetzt erfordere. Pollmer schließt daraus, daß die Medizin auf dem Holzweg sei, wenn sie Übergewichtigkeit als Krankheit auffaßt.
Auf den Südsee-Atollen leidet mittlerweile die Hälfte der Bewohner im Alter von fünfzig und mehr Jahren an Diabetes vom Typ 2. Hierfür gibt es eine einfache Erklärung: Wer die Gene in sich trägt, die die Entstehung dieser Krankheit begünstigen, verbrennt weniger Kalorien und setzt leicht Fett an. Weil jedoch auf den Atollen Nahrungsmittel lange Zeit knapp waren, hatten Diabetiker dort die besten Überlebenschancen. Ebenso ist es unter bestimmten Umständen durchaus ein Vorteil, unter Familiärer Hypercholesterinämie zu leiden. Die extrem hohen Cholesterinwerte, die diese Krankheit mit sich bringt, schützen nämlich vor Infektionen – und haben das Sterberisiko in früheren Epochen, in denen die hygienischen Verhältnisse oft miserabel waren, erheblich reduziert. In Pollmers Augen ist deshalb ein mäßiges Übergewicht nicht nur nicht gesundheitsschädlich, sondern oft sogar gesundheitsfördernd. Gefährlich sei allein, extrem über- oder untergewichtig zu sein.
Jahr für Jahr werden in Europa etwa hundert Milliarden Euro für Diäten und andere Abspeckmaßnahmen ausgegeben. Eine ungeheure Geldverschwendung – behauptet Pollmer. Denn die Wahrscheinlichkeit, daß jemand mit Diäten oder Sport dauerhaft abnimmt, sei verschwindend gering. In der Regel würden sie das Gegenteil bewirken und im günstigsten Fall zu einer steten Gewichtszunahme, im schlimmsten Fall zu gesundheitlichen Schäden führen. Nach Pollmer rührt das daher, daß sich der Körper nicht überlisten läßt und früher oder später einen Weg findet, sich die Nährstoffe zu beschaffen, die ihm vorenthalten werden. Pollmer hält deshalb auch nicht viel davon, Kinder zu kontrolliertem Essen zu erziehen. Je konsequenter das erfolge, desto größer sei die Gefahr, daß die automatischen Regulationsmechanismen des Körpers aus dem Tritt geraten und schwere Eßstörungen auftreten könnten. Außerdem sei längst erwiesen, daß die Ernährungsgewohnheiten, das Ernährungswissen, der Bildungsgrad und der soziale Status der Eltern das Gewicht des Nachwuchses nur unwesentlich beeinflussen würden.
Tiere in freier Wildbahn brauchen keinen Ernährungsberater. Sie wissen stets intuitiv, welche Nahrung sie in welcher Menge zu sich nehmen müssen. Nach Pollmer sind auch Menschen dazu ohne weiteres im Stande, dank ihres Darmhirns, das die Zusammensetzung der Nahrung äußerst genau analysiert. Pollmer rät dringend, auf das Darmhirn zu hören – auch wenn es sich von Aromastoffen, Geschmacksverstärkern und Konservierungsmitteln immer wieder in die Irre führen läßt.
Landauf und landab wird heute ständig verkündet, daß die deutschen Kinder unaufhaltsam verfetten würden. Pollmer kann jedoch allenfalls eine geringfügige Gewichtszunahme ausmachen, die er in erster Linie auf den gestiegenen Anteil von Kindern anderer Ethnien zurückführt. Hingegen bestreitet er entschieden die gängige Auffassung, daß falsche Ernährung und Bewegungsmangel die Hauptursachen der Verfettung seien. Was Kinder in Wahrheit dick macht, behauptet er, sei im wesentlichen Schlafmangel, Fernsehkonsum und psychosozialer Streß, bedingt durch Arbeitslosigkeit der Eltern und andere Faktoren.
Pollmer hat meistens recht. Einzig fragwürdig ist, daß er keine Unterschiede macht zwischen Diäten und radikal veränderter Ernährung.
Udo Pollmer: Esst endlich normal! Wie die Schlankheitsdiktatur die Dünnen dick und die Dicken krank macht. Piper Verlag München 2006, 294 Seiten, 14 Euro
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