Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 2. Oktober 2006, Heft 20

Santiago, 11. September 2006

von Erhard Crome

Wieder Santiago de Chile, wieder der 11. September: der wirkliche, der von 1973, mit dem der Neoliberalismus in die Welt gebracht wurde. Die große Demonstration zum Gedenken an die Opfer fand am Sonntag, dem 10. September, statt. Zielort war der zentrale Friedhof von Santiago, auf dem sich der Gedenkstein für Salvador Allende befindet, den mit dem Putsch ums Leben gebrachten, demokratisch und rechtmäßig gewählten Präsidenten Chiles. In der Nähe seit kurzem das Grab von Gladys Marin; sie war zu Putschzeiten Vorsitzende des Kommunistischen Jugendverbandes, nach dem Ende der Diktatur Vorsitzende der Kommunistischen Partei. Sie war entgegen der Concertación für eine entschiedene Bestrafung der Schuldigen an den Morden der Diktatur und für eine angemessene Entschädigung der Opfer.
Die Concertación als »Koalition der Parteien für die Demokratie« war aus dem Bündnis von Mitte-Links-Parteien hervorgegangen, das 1989 für freie Wahlen und gegen die Verlängerung der Pinochet-Diktatur eintrat. Es stellte alle gewählten Präsidenten seit dem Ende der Diktatur. Zur Concertación gehören die Christlich-Demokratische Partei, die Sozialdemokratische Partei, die Sozialistischen Partei und die Radikale Sozialdemokratische Partei. Sie gewährleisteten eine Stabilität der liberal-parlamentarischen Verhältnisse nach der Diktatur, hielten sich aber im wesentlichen an die Vereinbarungen über Straffreiheit der Schergen der Diktatur und beließen es bei der neoliberalen Wirtschaftsordnung. Deshalb galten die Kommunisten als störend.
2004 hat die Militärführung die durch die Streitkräfte verübten Verbrechen anerkannt. Es gibt eine inzwischen bestätigte Liste von über 30000 Opfern. Der frühere Putschist und Diktator Pinochet ist als korrupter Geschäftemacher überführt; der Mythos, die chilenische Diktatur hätte nur der »Ordnung« gedient und sei eine mit »sauberen Händen« gewesen, ist auf immer zerstört. Inzwischen will nicht einmal mehr die Armeeführung mit Pinochet in der gleichen Kirche fotografiert werden.
In Chile ist vieles in Bewegung gekommen. Michelle Bachelet, die Kandidatin der Sozialisten für das Präsidentenamt bei den Wahlen 2005, erhielt im ersten Wahlgang fünf Prozent weniger als der Kandidat der Rechten. Das Bündnis, an dem die Kommunisten beteiligt waren, bekam über fünf Prozent. In der komplizierten innenpolitischen Situation rief die Kommunistische Partei für den zweiten Wahlgang nicht offen zur Wahl von Bachelet auf, formulierte aber fünf Eckpunkte: die Veränderung des Wahlsystems, das seit dem Ende der Diktatur die Mandate zwischen der Concertación und der Rechten aufteilte und die Linke ausschloß; eine Rentenreform, die die Privatisierung der Altersversorgung rückgängig macht und wieder der Kontrolle des Staates unterstellt; eine Stärkung der Rechte der Arbeiter, darunter das Koalitionsrecht und das Streikrecht; die Stärkung der Menschenrechte und die Bestrafung der Schuldigen an den Morden der Diktatur und die Anerkennung der Rechte der indigenen Bevölkerung. In der Wahlkampagne antwortete Frau Bachelet auf diese Punkte und erklärte, sie werde sie berücksichtigen. Nach ihrer Wahl zur Präsidentin geht es jetzt um die Umsetzung dieser Forderungen.
Der entscheidende Punkt ist der: Chile war nach dem 11. September 1973 das erste Land, in dem der Neoliberalismus mit Mord und Totschlag versuchte, der Arbeiterklasse und der politischen Linken das Genick zu brechen, um das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit nachhaltig und dauerhaft zugunsten des Kapitals zu verändern. Zu jener Zeit wirkte dies im Westen, wo der Sozialstaat dauerhaft etabliert zu sein schien, wie eine Eigentümlichkeit am anderen Ende der Welt. Heute ist es umgekehrt. Hierzulande will man den Beschäftigten noch immer einreden, die Privatisierung von allem und jedem sei eine Segnung; die Sozialdemokratie wurde zur neoliberalen Partei, und die Gewerkschaften führen Rückzugsgefechte. In Chile ist der Neoliberalismus inzwischen enttarnt als das, was er ist: eine Profitmaschine für die Reichen. Die Regierung befaßt sich wieder mit der Stärkung des Staates in der Sozial- und Rentenversicherung, während die Gewerkschaften Zulauf erleben.
An der Demonstration am 10. September nahmen nach Aussage der bürgerlichen Presse etwa 6000 Menschen teil, nach Angaben der Organisatoren 20000. Im Grunde waren es zwei Demonstrationen, eine der Familien der Verhafteten und Verschwundenen sowie der Linken, die für die Bestrafung der Schuldigen demonstrierten, und eine von Asozialen, die nur Randale wollten. In Chile werden sie »Anarchisten« genannt. Ich habe einige von denen gesehen, als sie, schwarz gekleidet, sich die schwarzen Masken vom Gesicht zogen. Sie hatten glattrasierte Schädel. In Deutschland sehen so die Nazis aus.
In der Bewertung durch die Linken war am nächsten Tag die Rede von »Infiltrierten«. Das ist wohl in der Tat das »neue« Aufgebot der Rechten. Eine Brandflasche war gegen den Präsidentenpalast La Moneda geschleudert worden. Zum ersten Mal seit dem 11. September 1973 brannte es an La Moneda. Wenn Politik etwas mit Symbolik zu tun hat: Das ist ein Symbol des Hasses der Rechten auf die Veränderungen zu ungunsten des Neoliberalismus. Der Wurf hat – im Unterschied zu den Bomben von 1973 – keine ernsthaften Schäden verursacht; insofern erscheint auch der Faschismus erst als Tragödie, jetzt als Farce. Die trägt aber noch immer die Fratze des Todes.
Salvador Allende hatte in seiner letzten Rede gesagt, andere, die die schweren und bitteren Augenblicke überwinden, sollten wissen, »daß eher früher als später wahre Menschen auf breiten Straßen voranschreiten werden, um eine bessere Gesellschaft aufzubauen«. Diese Menschen sind jetzt aufgebrochen. Sie haben viele ideologische Hürden längst hinter sich gelassen, vor denen wir immer noch stehen. Venceremos ist dort noch immer ein gutes Wort: Wir werden siegen.