von Gerhard Wagner
In Sachen »NS-System« wird heutzutage vieles an sogenannter Aufarbeitung quasi rund um die Uhr angeboten. Die »Machtergreifung« von 1933, die Alltagstotalität der Naziherrschaft, die rassistische Ausgrenzung, die Verblendungsdramaturgien und Herrschaftssymbole des Regimes erfahren aus unterschiedlichen Perspektiven ausführliche Darstellung, mit unterschiedlichen Methoden und Absichten. Der Museologe Gerd Biegel weist in dem Band Es dämmert ein neuer Glaube an Freiheit und Ehre, in dem Beiträge einer 2005 vom ver.di-Landesbezirk Nord (Kiel) und der Stiftung Kultur (Prora/Rügen) anläßlich des 8. Mai veranstalteten Tagung vereinigt sind, auf die vorherrschende »mediale Vergessenskultur« und seifenopernartige »Herrschaftsgeschichte« hin.
Die offiziösen Schatzhalter bezweckten mit solchen Strategien nichts anderes als die Förderung »zeitgeistnormativen Verhaltens«. Doch die Zahl derer, die genau hinsehen und -hören, wenn dreist fast nur noch von »Antitotalitarismus« statt von »Antifaschismus«, unablässig verharmlosend von »Verführung«, »Verstrickung« und »Untergang« der Deutschen gesprochen wird, ist sichtlich geringer geworden. Darum wird ja vieles immer wieder nahezu ungestört praktiziert: so die Irrationalisierung von Auschwitz zum »Bösen« schlechthin – hinter dem andere, spätere Verbrechen verschwinden –, die mysteriöse Konstruktion der Tradition eines vermeintlich über Generationen hinweg ein ganzes Volk einenden »deutschen Widerstands«, der im heutigen »Aufstand der Anständigen« gegen den Neonazismus gipfele; die Stilisierung der Deutschen zu einer homogenen Opferkolonne des Zweiten Weltkriegs.
Die offizielle und insgeheime Spekulation auf politische Lethargie, die Aushöhlung und Neubesetzung von Begriffsinhalten tragen, begünstigt durch die Langzeitwirkungen der staatskommunistischen Jahrhundertpleite und durch neue soziale Spannungen, Früchte. »Soziale Notlagen machen die Menschen empfänglich für rechte Parolen«, schreibt Jürgen Rostock schlußfolgernd in einem Beitrag über das einst mit Hilfe von beschlagnahmten Gewerkschaftsgeldern konzipierte »KdF«-Projekt und über dessen sozialdemagogische Suggestion von »völkischer« Gleichheit, von Aufstieg und Konsumentenglück.
Wolfgang Beutin akzentuiert am Beispiel des historischen Datums 9. November (1923: Marsch zur Feldherrnhalle in München, 1938: Reichskristallnacht) die komplexen Ursachen der Machtübergabe von 1933, darunter den massenhaften »Servilismus«, die »Untertanenseligkeit«, spannt den Bogen bis zum 9. November 1989 (Mauerfall) und zur aktuellen neoliberalen Ideologie. Wichtig auch die Erinnerung von C. Cay Wesnigk, Produzent des originellen Kompilationsfilms Hitlers Hitparade (ZDF/arte, 2003), daran, »wie verführerisch und vereinnahmend ein verselbständigtes Zeitgefühl wirkt« und eine Ästhetik hervorbringen kann, »die zu ihrer vollkommenen Durchsetzung über Leichen zu gehen« imstande ist. Angesichts sowohl der »Legal-Strategie« freundlichen und friedlichen Wirkens der NPD und ihrer Sprachautomaten in Bürgerinitiativen und Vereine hinein als auch von heutigen »Überwachungsgesetzen der Verwaltung, quasi-diktatorischem Zeitgeist, Grausamkeit« unter der neoliberalen »Diktatur des Goldenen Kalbes« stellt Claudia Lorenz die Frage, »ob wir uns nicht noch viel sorgfältiger mit der Wirksamkeit von Propaganda beschäftigen müssen«.
Der Band ist ein Sammelwerk in mehrfachem Sinne: Er gruppiert nicht nur unterschiedliche Gegenstände, sondern verbindet historisches Wissen mit gegenwärtiger Erfahrung; er kann, wenn das hier in engerem Kreis Getane genutzt wird, zum Zusammenwirken demokratischer Kräfte im Kampf gegen die Schatzhalter neofaschistischen Gedankenguts, zur Überwindung politischen Außenseitertums und auch zur fundierten Kritik des offiziösen Gedenkbetriebs beitragen. Im Anhang bietet er praktische Hinweise, darunter eine Liste mit den Adressen von Ansprechpartnern in Mecklenburg-Vorpommern. Zur verlegerischen Glanzleistung fehlen ihm nur ein sachkundiges und sorgfältiges Lektorat der Beiträge.
Heidi Beutin u. a. (Hrsg.): Es dämmert ein neuer Glaube an Freiheit und Ehre. Der 8. Mai 1945. Beiträge zur politischen Tagung mit Kunstausstellung im Dokumentationszentrum Prora/Rügen (7./8. Mai 2005), Peter Lang Verlag Frankfurt a. M. 2006, 186 Seiten, Abbildungen, 34 Euro
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